EM 2024: Julian Mannschaftsmann: Wie Nagelsmann aus der Asche der letzten Jahre ein Team schuf
Zwei EM-Spiele, zwei Siege. Julian Nagelsmann hat mit der Nationalmannschaft geschafft, was vor ein paar Monaten noch weit entfernt schien: Es gibt wieder eine Mannschaft. Über einen, der gleichzeitig mutig und locker daherkommt.
Unabhängig davon, wie weit es im Turnier nachher wirklich geht: Schon nach zwei Vorrundenspielen bei dieser EM 2024 ist klar, dass Julian Nagelsmann es geschafft hat, aus der Asche der vergangenen Jahre eine neue Einheit zu bilden. Im Herbst 2023 stand Nagelsmann vor den Trümmern von verkorksten Jahren. Niemand wusste mehr, für was die Nationalmannschaft fußballerisch steht. Sie spielte nicht effektiv, sie spielte nicht schön, sie kassierte ständig Gegentore. Doch Nagelsmann fasste über den Winter einen Plan. Und der begann bei Toni Kroos.
Im Februar sorgte die Ankündigung, Kroos werde ins DFB-Team zurückkehren, noch für manche Verwunderung. Kroos selbst machte schnell klar: Für seine Entscheidung seien die "handelnden Personen bei der Nationalmannschaft" ausschlaggebend gewesen. Mit Julian Nagelsmann sei er "schnell auf einer Wellenlänge" gewesen. "Wir haben viel darüber gesprochen, wie man wieder Erfolg haben kann", sagte Kroos. Nagelsmanns Plan und Kroos' Beitrag sozusagen.
Kimmich_Mittelstädt 08.32Julian Nagelsmann scheut sich für den Erfolg nicht vor unpopulären Entscheidungen. Dabei war die Rückholaktion von Toni Kroos noch die, für die es die wenigste Kritik gab. Lauter wurde es, als Nagelsmann an İlkay Gündoğan als DFB-Kapitän festhielt. Das größte Unverständnis aber herrschte zwischenzeitlich darüber, dass Nagelsmann an Manuel Neuer als Nummer eins im deutschen Tor festhält. Neuer sei nicht mehr auf der Höhe, und er patze zu oft, sagten Kritiker – zuletzt, als er bei der EM-Generalprobe gegen Griechenland einen vermeintlich einfachen Ball nicht festhalten konnte und so unfreiwillig eine Torvorlage lieferte. Aber Nagelsmann ignorierte die Stimmen, setzte darauf, dass zwei so erfahrene Spieler im richtigen Umfeld wieder zur Form finden würden. Bisher behielt er recht. Das Konstrukt steht, die Achse Neuer – Kroos – Gündogan verspricht nicht mehr nur auf dem Papier Weltklasse.
Julian Nagelsmann trifft auch unpopuläre Entscheidungen
Auch Nagelsmanns Nominierungen für den EM-Kader ließen so einige Hobby-Nationaltrainer verwundert zurück: Mats Hummels und Leon Goretzka nicht dabei? Hummels selbst zeigte dafür bei aller Enttäuschung Verständnis: "Ich kann die Gedanken nachvollziehen, dass da eine Gruppe seit März wachsen sollte. Für mich als Einzelperson ist das bitter, weil ich aktuell zu den fünf besten Verteidigern in Deutschland gehöre, dieses Selbstvertrauen habe ich. Wenn ich die Phase wie zuletzt vor der Nominierung im März gehabt hätte, wäre ich vielleicht da dabei gewesen – und jetzt auch Teil des EM-Kaders."Deutschland Ungarn Einzelkritik20.30
Für seinen Kader scheint Nagelsmann jedenfalls ein gutes Gespür zu haben: Beim Auftaktspiel gegen Schottland in München wechselt er in der 73. Minute Bayern-Ikone Thomas Müller ein. Beim zweiten Gruppenspiel in Stuttgart bringt er mit Chris Führich (72.) und Deniz Undav (84.) vom VfB. Alle drei zahlen es mit engagierten Leistungen – und Müller sogar mit einer Torvorlage – vor "ihrem" Publikum zurück. Auch hier wird der Mut von Nagelsmann bisher belohnt.Kimmich_Mittelstädt 08.32
Der Kader bestimmt die Taktik
Nagelsmann stimmt seine Taktik auf seinen Kader ab. In der Abwehr zeigen die Außenverteidiger Joshua Kimmich und Maximilan Mittelstädt schon nach wenigen gemeinsamen Spielen all ihr Können, wie auch unser Kollege Christian Ewers betont. Beim Länderspiel gegen Frankreich im März feierten sie Premiere und trieben Kylian Mbappé und Ousmane Dembélé zur Verzweifelung. Inzwischen wissen die beiden deutschen Außenverteidiger, dass sie Nagelsmanns Vertrauen zurückgezahlt haben – und machen einen herausragenden Job.
Im Mittelfeld harmonieren Gündoğan und Kroos viel besser, als viele Kritiker erwartet hatten. Beinahe jede Offensivaktion gegen Schottland lief über diese beiden. Nagelsmann hat es geschafft, die Beziehung von Gündogan und Kroos auf dem Platz entzerren. "Jetzt, wo wir ein bisschen versetzt zueinander spielen, können wir uns noch besser ergänzen", sagte Gündoğan nach dem Sieg gegen Ungarn. "Das Gute ist, gerade mit Toni jetzt auch, dass wir, wenn wir uns auf dem Platz anschauen, selbst für eine Millisekunde, dass wir auch wissen, was der andere denkt und vorhat in der nächsten Situation. So eine Verbindung ist auf dem Platz unfassbar wichtig."
Taktisch hat sich die die Spielweise unter Nagelsmann wegentwickelt vom Ballbesitz-Fußball. Nun dürfen die Spieler auch mal mit langen Bällen die gegnerische Formation einem Reißtest unterziehen. Als Ungarn nach der Pause plötzlich höher anlief, spielte Rüdiger einfach lang auf Havertz, der erkämpfte sich den Ball, Deutschland setzte sich weiter vorne fest. Das Pressing überspielt.
Charakter und Mentalität stimmen
In der Mixed Zone zeigt sich, was das Team noch auszeichnet. Nach dem Sieg über Ungarn sagte Kroos: "Wir haben die ein oder andere Schwierigkeit überstanden. Das bringt der Mannschaft enorm viel, das wird in der K.-o.-Phase wichtig. Wir werden hier nicht sieben Spiele von vorne wegspielen und immer führen. Deswegen ist es wichtig, diese Erfahrungen zu machen. (...) Unser Ziel ist logischerweise, Gruppenerster zu werden. Wir müssen die Spannung hoch halten. Es ist nicht gut, wenn irgendwas abfällt. Wir haben ein größeres Ziel als nur das Achtelfinale."
Und Mittelstädt sagte: "Wir haben gezeigt, dass wir auf einem guten Weg sind. Für uns ist alles drin. Wir haben in zwei Spielen eine sehr gute Leistung gezeigt. Wenn wir diese Leistung in den nächsten Wochen bestätigen, können wir Großes erreichen."
Das DFB-Team hat die Mentalität und den Charakter, um Großes zu erreichen. Nagelsmann geht locker, aber konzentriert voran. Die Spannung hochhalten, keinen Gegner auf die leichte Schulter nehmen, aber auch mal lachen zwischendurch: So kann es das Team bis nach Berlin schaffen.