Asyldebatte: Grüner Migrationsexperte: "Merz zeichnet ein groteskes Bild der Wirklichkeit"
Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt erklärt, warum die Migrationspläne der Konservativen ganz Europa gefährden – und am Ende trotzdem immer die Grünen schuld sind.
Die irreguläre Migration muss endlich begrenzt werden – das ist der Tenor in der Politik, so klingt es jetzt auch an der Grünen-Spitze. Finden Sie das auch?
Wir streiten für eine bessere Verteilung der Flüchtlinge, für die systematische Registrierung an den Außengrenzen und die Bekämpfung der Fluchtursachen. Im Ergebnis würde das zu weniger Chaos und weniger irregulärer Migration führen.
Warum wirkt es dann oft so, als wären die Grünen in Migrationsfragen die Blockierer?
Eines vorweg: Die Grünen hatten noch nie das Bundesinnenministerium, kein Landesinnenministerium oder eine Zuständigkeit in der EU-Kommission. Was hier also gerade scheitert, ist keine grüne Migrationspolitik. Wir haben seit Jahren einen ziemlich strammen Weg autoritärer Asylpolitik in Deutschland und Europa beschritten – nur leider erfüllt der die geweckten Erwartungen überhaupt nicht. Und Schuld sollen dann immer die Grünen sein?
"Die Union fordert nicht weniger als den Rechtsbruch"
Also ist das alles nur Propaganda von CSU-Chef Markus Söder?
In dieser hysterischen Debatte erscheint es oft so, als gebe es nur zwei Extrempositionen: "Offene Grenzen, jeder darf rein" versus "Grenzen dicht, alle zurückweisen". Das ist Unsinn. Für uns kommt es auf die konkreten Vorschläge an. Und da lagen wir mit unserer Ablehnung oft richtig: Der EU-Türkei-Deal ist zum Beispiel krachend gescheitert und stationäre Grenzkontrollen halten Pendler aber keine Geflüchteten auf, weil Asylsuchende dort genauso Asyl beantragen dürfen. Das ist jetzt auch der Union aufgefallen – also fordert sie nicht weniger als den Rechtsbruch.
Was spricht aus Ihrer Sicht gegen Zurückweisungen?
Es spricht rechtlich nichts dagegen, Menschen zurückzuweisen, die die Einreisebestimmungen nicht erfüllen und kein Asyl beantragen. Das passiert tagtäglich. Aber sobald jemand vorbringt, er sei in Gefahr und brauche Asyl, dann geht das eben nicht.
Weil zunächst der Asylantrag geprüft werden muss?
Natürlich. Aber wenn ich Friedrich Merz zuhöre, frage ich mich: Glaubt die Union noch an rechtsstaatliche Verfahren und die Europäische Union, oder will sie, dass direkt an der Grenze mit dem Knüppel entschieden wird? Es ist ein Unterschied, ob wir über rechtsstaatliche Grenzkontrollen reden oder über eine systematische Grenzschließung, dagegen spricht nicht zuletzt die Europäische Rechtsordnung. Der Vorschlag würde eine Kettenreaktion der EU-Partner verursachen und den Binnenmarkt grundlegend gefährden.
Was spricht dagegen, zumindest jene Geflüchteten abzuweisen, die bereits anderswo in Europa Asyl beantragt haben?
Es klingt so einfach. Aber man müsste jeden Fall prüfen. Wurde schon mal anderswo ein Antrag gestellt? In welchem Land? Hat er trotzdem Gründe weiterzureisen, etwa Familie in einem anderen Land? Diese Prüfung findet erst am Anfang des Asylverfahrens statt, dann wird entschieden, ob er bleiben darf oder ein anderes Land die Person zurücknehmen muss. Diese Verfahren werden entsprechend der Dublin-Verordnung durchgeführt.
Debatte um Zurückweisungen 17:53
Soweit die Theorie. In der Praxis hat Deutschland im vergangenen Jahr für 75.000 Geflüchtete Anfragen an EU-Staaten gestellt, aber nur 5000 Personen überstellt.
Genau da muss man ansetzen. Wir müssen mit den Ländern an den EU-Außengrenzen härter ins Gericht gehen: Wieso verzögert ihr die Verfahren? Wieso behandelt ihr die Leute so schlecht, bis ihr sie vertrieben habt? Warum zieht ihr euch aus der Verantwortung und wir sollen es ausbaden? Darüber müssen wir diskutieren, statt über pauschale Zurückweisungen.
"Nichts anderes als Wahlkampfgetöse"
Friedrich Merz sieht Deutschland in einer Notlage. Man müsse sich nur die Situation in Schulen ansehen, auf dem Wohnungsmarkt, in Arztpraxen, sagt der CDU-Vorsitzende. In Notlagen wären Zurückweisungen erlaubt.
Merz zeichnet ein groteskes Zerrbild der Wirklichkeit. Niemand bestreitet, dass es Kommunen gibt, die überfordert sind. Aber das, was Merz hier tut, ist nichts anderes als Wahlkampfgetöse. Der Europäische Gerichtshof hat sehr hohe Hürden für den Notstand aufgestellt. Befinden wir uns denn wegen des Solinger Attentats, so furchtbar das war, ernsthaft in einer nationalen Notlage, die dazu führt, dass der größte Mitgliedsstaat der Europäischen Union sagen sollte: Wir haben die Kontrolle verloren und halten uns nicht mehr an Recht und Gesetz?
Aber was passiert, wenn Deutschland einfach zurückweist? Markus Söder beklagt, dass sich Länder wie Italien, Griechenland, Bulgarien auch nicht ans Europarecht hielten.
Ist das jetzt also das Argument: Wir scheren uns nicht mehr um das Europarecht, weil andere Länder sich auch nicht daran halten? Das kann nicht die Haltung Deutschlands sein. Das hätte eine Kettenreaktion zur Folge, die das Europarecht, das Schengen-Abkommen, die Grundfesten Europas erschüttert. Das wäre die Abrissbirne für die europäische Nachkriegsordnung. Davon abgesehen würden das auch die EU-Partner nicht einfach so hinnehmen. Bereits die Zurückweisung einer Familie ohne Absprache nach Polen hat kürzlich einen diplomatischen Eklat ausgelöst.
"Beißhemmungen unter Konservativen"
Welches Druckmittel hätte Deutschland sonst?
Das Druckmittel heißt Europäische Kommission. Statt sich weiter an der Ampel abzuarbeiten, sollte Friedrich Merz mit seiner Parteikollegin Ursula von der Leyen, der EU-Kommissionspräsidentin, reden. Die Kommission muss endlich aufhören, immer ein Auge zuzudrücken. Sie ist die Hüterin der Verträge. Merz könnte auch mit seinen Parteikollegen in der Europäischen Volkspartei reden, die in Polen, Kroatien, in Griechenland regieren. Länder, die Schutzsuchende nicht ordentlich registrieren. Von der Leyen könnte dort überall Vertragsverletzungsverfahren einleiten und eine klare Sprache finden. Aber es gibt unter den Konservativen offenbar Beißhemmungen.
Und die Bundesregierung ist machtlos?
Nein, ich erwarte vom Bundeskanzler zwei Dinge. Dass er Vernunft in die Debatte bringt und den Raum nicht allein Rechtsradikalen und hysterischen Konservativen überlässt. Und ich erwarte, dass er in Europa ein deutliches Stoppschild aufstellt: So nicht! Ihr registriert die Leute und dann reden wir über die Verteilung.
Aber gerade dieser Solidaritätsmechanismus funktioniert doch nicht…
Moment! Wir haben uns erst vor Kurzem auf die Reform zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) geeinigt – nach fast zehn Jahren zähester Verhandlungen unter 27 Mitgliedsstaaten und dem EU-Parlament. Mir war da vieles zu flüchtlingsfeindlich, aber nun ist es beschlossen. Ich schlage vor, wir setzen das erst mal um, bevor wir wieder sagen, das reicht nicht. Konservative, Sozialdemokraten und Liberale wollten diese Reform. Es ist nicht seriös, wenn man sich gegen Gesetze stellt, die man selbst gerade jubelnd beschlossen hat.
Mit den Grünen wird es also keine weiteren Änderungen geben?
Es ist nicht so, als würden wir nicht mitkriegen, dass sich viele Menschen in der Migration Änderungen wünschen und dass es Probleme gibt. Wir wollen ja auch vieles ändern, aber wir haben in den letzten Jahren immer wieder das Asylrecht verschärft. Immer gab es dazu ein doppeltes Versprechen: Jetzt wird alles viel besser. Und wir nehmen damit den Rechten endgültig den Wind aus den Segeln. Beides ist nie eingetreten. Aber leider orientiert sich die Asyldebatte eher an den härtesten Slogans als an der komplexen Realität.