Wider alle Erwartungen
Es gibt zwei Dinge, die unsere Redaktion seit 1997 ausmachen: von Zynismus und Defätismus durchzogene Grundstimmung sowie chronisch falsche Vorhersagen. Borussia Mönchengladbach, qua DNA selten das tuend, was erwartbar zu sein scheint, straft uns einmal mehr Lügen und zeigt beim 2:1-Auswärtssieg bei einem Champions-League-Klub Qualitäten, die wir ihr schlicht nicht zugetraut haben.
Es ist ein knappes halbes Jahr her, da erschien auf dieser Eurer Lieblings-Website ein Abgesang auf den Verein und die handelnden Personen: Nichts weniger als der düstere Weg in die Zweitklassigkeit wurde vorhergesagt. Zudem unkten nicht wenige noch zur Winterpause, dass selbst die mehr als solide Hinserie schon mit reichlich Glück vermengt war, hatte der Kader doch das Glück, von größerem Verletzungspech der Leistungsträger verschont zu bleiben.
Nun sind in den vergangenen Tagen mehrere Ereignisse geschehen, die uns hier scheinbar faules Wasser auf unsere morschen Mühlen gaben: die vorzeitige Vertragsverlängerung von Roland Virkus, der erneute Verzicht von Nachbesserungen auf dem Transfermarkt im nun wieder geschlossenen Transferfenster und, kurz vor Anpfiff in Stuttgart, noch die Meldung über die Verletzung von Rocco Reitz, der, wie Franck Honorat, mehrere Wochen ausfallen wird. Reitz, nach dem 3:0 gegen Bochum sogar vom vermeintlichen Fachmagazin aus Nürnberg sogar in die Elf des Tages gewählt, zählt für uns wie Franck Honorat und Tim Kleindienst zu den drei Eckpfeilern, die wir qualitativ schlicht nicht ersetzen können. Dass Alassane Plea immer wieder mal verletzt ausfällt, war erwartbar, darf jedoch auch nicht vergessen werden.
Was jedoch tatsächlich geschah: Borussia verpflichtet in Kevin Diks einen Wunschspieler für die Defensive; allerdings erst für die kommende Saison. Und gewinnt dann mit einer der besten Saisonleistungen unterm Strich verdient beim Vize-Meister aus Stuttgart, bei der dann auch noch ein gewisser Nathan Ngoumou zu einem der Matchwinner wird. Statt des Weges in die Zweitklassigkeit heißt die Realität nach 20 Spieltagen: 30 Punkte, Rang 7 und nur drei Zähler hinter dem Champions-League-Platz 4. Viel bemerkenswerter ist doch ein anderer Wert: Während Borussia in der Vorsaison unglaubliche 31 Punkte nach Führungen noch liegengelassen hat, sind es in dieser Saison, ja, richtig gelesen: exakt null.
Nun ist das falsche Einschätzen von Situationen von älteren, weißen Männern in Deutschland gerade ganz generell en vogue, im Vergleich zu Kanzlerkandidaten erfreuen wir uns natürlich heimlich daran, im Unrecht zu sein. (Unter uns: Akademiker erfreuen sich nur deswegen in der Rolle der Kassandra, im Falle von negativen Ereignissen ohnehin schon „alles immer gewusst“ zu haben. Wenig schreckt den Intellektuellen mehr ab, als „naiv“ bezeichnet zu werden).
Borussia zeigte in Stuttgart eine mehr als reife und konzentrierte Leistung, erspielte sich mehr Chancen als der Gegner, hatte sowohl bei Boden- als auch bei Luftzweikämpfen klar die Nase vorn. Gerardo Seoane hatte der Mannschaft eine kluge Taktik mitgegeben, immer wieder fanden Pässe aus dem Mittelfeld den Weg hinter die Kette der Gastgeber, in die Ngoumou, Lukas Ullrich oder Robin Hack ihre Wege fanden. Dem 1:0 ging ein ganz entzückender Pass von Julian Weigl voraus, der Ngoumou butterweich mit einem Doppelpass bediente. Ja, das sah tatsächlich so gewollt aus, und nicht nur der Autor dieses Berichts rieb sich verwunderter die Augen als Markus Söder beim Lesen einer vegetarischen Speisekarte.
Als Nico Elvedi kurz nach Wiederanpfiff durch sein erstes Eigentor das Spiel auf Remis stellte, geschah indes wieder etwas nicht, das nicht wenige erwartet hatten (ja, den Satz dürft Ihr zweimal lesen): Borussia wurde eben nicht passiv, sondern blieb konzentriert, spielte nach vorne und ab der 70. Minute entstand beim Beobachter das Gefühl, dass die Mannschaft nicht nur besser wurde, sondern auch an den Sieg glaubte, auch wenn es der nervige Sky-Reporter Robert Evers bis zum Abpfiff anders herbeireden wollte. Das 2:1 durch Kleindienst, vorgelegt von Ullrich, fühlte sich gleichsam befreiend wie sehr verdient an. Kleindienst selbst litt vorher, wie schon in den vergangenen Wochen, am Fehlen von Honorat. Es ist jedoch auch Ausdruck der Klasse von Kleindienst, dass er selbst in schwachen Spielen immer noch das tut, wofür er in erster Linie da ist.
Natürlich braucht es in der Bundesliga gegen Gegner der Klasse des VfB Stuttgarts auch das Glück, auf müde oder formschwache Mannschaften zu treffen. Das Ausnutzen dieser Umstände war jedoch in den vergangenen Jahren nicht zwingend eine der Kernqualitäten Borussias. Und selbst nach diesem Spiel müssen wir feststellen, dass Kevin Stöger nach wie vor nicht die unbeschwerte Leichtigkeit der ersten Saisonspiele hat, dass Philipp Sander nicht die offensiven Qualitäten von Reitz hat, dass Ullrich sich im forschen Vorwärtsdrang gerne mal verzettelt. Dass Borussia aber mehr und mehr Spiele gewinnt, in denen sie nicht zwingend das Leistungsmaximum aller Akteure braucht, ist eine weitere bemerkenswerte wie erstaunliche Entwicklung.
Abschließend möchte ich feststellen: Was Kollege Michael Oehm kann, kann ich natürlich schon lange. Borussia erzielte bislang 1,5 Punkte pro Spiel. Auf eine Saison hochgerechnet wären das 51 Punkte. ChatGPT sagt, dass das „oft“ für die Europa-League-Qualifikation reicht. Oft also, nicht immer. Wir gehen daher weiter nicht davon aus, dass Borussia es schaffen wird.
Wir sind immer noch SEITENWAHL, und das wird man ja wohl noch schreiben dürfen!