Hirschberg: Judenfeindschaft in der Mitte der Gesellschaft
Hirschberg. (nare) Die Zahlen, die das Bundesinnenministerium vor rund einer Woche veröffentlicht hat, sprechen erschreckenderweise für sich: Mit rund 55.000 Fällen haben die politisch motivierten Straftaten einen Höchststand seit der Einführung der Statistik im Jahr 2001 erreicht. Und allein diese Zahlen zeigten bereits, weshalb Albrecht Lohrbächers Vortrag "Judenfeindschaft in der Mitte der Gesellschaft" aktueller ist denn je. Zu diesem Vortrag hatte der Arbeitskreis Ehemalige Synagoge Leutershausen am vergangenen Sonntagabend eingeladen.
Gleich zu Beginn stellte Lohrbächer klar, dass die vom Bundesinnenministerium erfassten und veröffentlichten Daten nur die Spitze des Eisbergs seien. Zahlreiche der politisch motivierten Straftaten richten sich gegen Juden, und obwohl die Zahl derart deutlich zunehme, würden viele der Vorfälle gar nicht erst gemeldet und tauchten somit in keiner Statistik auf. Und doch sind sie da, und viele der in Deutschland lebenden Juden leben in Angst. "Es ist dringend, worüber wir reden. Wir haben ‚Warnstufe rot‘", mahnte der evangelische Theologe bei seinem Vortrag in der Alten Synagoge in Leutershausen. Denn der Alltagsantisemitismus habe in den vergangenen Jahren nochmals neue Dimensionen erreicht.
So seien die Juden von Verschwörungstheoretikern mit dem Corona-Virus in Verbindung gebracht worden, und auch unter Schülern nehme der Antisemitismus zu, so Lohrbächer. All das führe dazu, dass Juden in Deutschland zunehmend Angst davor hätten, ein Symbol zu tragen oder zu Veranstaltungen zu gehen. "Ein jüdischer Gottesdienst kann in Deutschland nicht mehr ohne Polizeiüberwachung stattfinden. Wo sind wir hingekommen?", fragte Lohrbächer sich und die Zuhörer. Dass dies trotz der in Deutschland so intensiv praktizierten Erinnerungskultur zum immer größeren Problem werde, sei widersprüchlich und besorgniserregend.
Die Problematik dabei sei neben einer Täter-Opfer-Umkehr auch häufig ein "sekundärer Antisemitismus". Dabei werde der Hass auf Juden unter anderem in einen Hass gegen Israel umgemünzt. "Von Israel wird ein Verhalten gefordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder verlangt wird", so Lohrbächer.
Doch der Vorsitzende des Arbeitskreises Ehemalige Synagoge Hemsbach sprach in seinem Vortrag nicht nur über die aktuelle Situation und die Gefahren für Juden in Deutschland, sondern thematisierte auch die historischen und religiösen Hintergründe für den Judenhass, den es nicht nur im christlich geprägten Umfeld, sondern auch im muslimischen Kontext gibt. Der Weg raus aus dem Hass sei schwierig. Denn auch wenn es Bewegungen und Initiativen sowie Städtepartnerschaften und Jugendaustausche gibt, so seien dies zwar wunderbare Geschichten, aber dennoch häufig nur kleine Beiträge innerhalb eines begrenzten Wirkungsraums.
Denn dagegen stünden weltweit verbreitete und sehr ernst zu nehmende antisemitische Bewegungen wie "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS), die im Endeffekt dazu aufrufen, nicht bei Juden einzukaufen, keine kulturellen Veranstaltungen von Juden zu besuchen und nicht mit Juden zu forschen.
Seinen Vortrag schloss Lohrbächer mit Zitaten des ehemaligen Staatspräsidenten Israels, Reuven Rivlin, aus einer Rede im Januar 2020 in Berlin. Dort appellierte dieser an die Verantwortung Deutschlands, denn wenn Juden hier nicht frei und ohne Angst leben könnten, könnten sie das nirgendwo auf der Welt. "Es ist ein Vermächtnis, das zu vielem verpflichtet", gab Lohrbächer den Besuchern mit auf den Weg, denn diese Herausforderung gelte es anzunehmen.