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„Stadtbild“-Debatte: Merz bringt CDU mit dieser Aussage in Erklärungsnot

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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser, kennen Sie Schrödingers Katze? Es ist ein Gedankenexperiment, mit dem der Physiker Erwin Schrödinger die Komplexität der Quantenphysik illustrieren wollte: Eine Katze sitzt in einer geschlossenen Box – mit einer radioaktiven Substanz, die zeitversetzt zu wirken beginnt. Solange die Klappe der Box geschlossen ist, ist die Katze in einem absurden Schwebezustand: tot und lebendig zugleich. Erst, wenn die Klappe geöffnet wird, erst wenn ihr Befinden also vom Betrachter überprüft wird, legt sich ihr Zustand fest: tot oder lebendig, nichts dazwischen. Friedrich Merz hat den verrückten Schwebezustand der Katze in der geschlossenen Box vergangene Woche mit seiner Aussage geschaffen, es gebe in Deutschland "ein Problem mit dem Stadtbild". Je nach Standpunkt des Betrachters sprach der Kanzler entweder endlich eine unbequeme Wahrheit aus oder war diskriminierend und rassistisch. Für beide Positionen gab es gute Argumente , beide waren gleichermaßen legitim. Die Köpfe schlagen sich seither das rechte und konservative Lager und das linke und progressive Lager gegenseitig ein. Und das vor allem aus einem Grund. Weil nämlich keiner wusste: Wie hat der Kanzler die Aussage genau gemeint? In einer Pressekonferenz am Montag stellten Journalisten genau diese Frage. Sie hoben den Deckel der Box und versuchten, der Katze den Puls zu fühlen. Doch Merz schaffte ein Kunststück, dem Erwin Schrödinger wohl einige Berechnungen hätte widmen müssen: Die Box wurde geöffnet – doch der Schwebezustand löste sich nicht auf. Die Katze blieb tot und lebendig zugleich unter den Augen von Tausenden Betrachtern. Der polarisierte Meinungskampf tobt seitdem weiter. Viel hat das damit zu tun, dass Merz schlicht keine klare Antwort auf die Frage gab, die ja nur er beantworten kann. Stattdessen übertrug er die Verantwortung, sich zu erklären, auf andere: "Fragen Sie mal Ihre Töchter, was ich damit gemeint haben könnte", sagte er. Spätestens mit Einbruch der Dunkelheit gebe es ein Problem – und dieses Problem gelte es zu lösen. Hier nun also die Antwort einer Tochter, die keinem der beiden nun streitenden Lager vollumfänglich gefallen dürfte. Warum Merz mit seiner Aussage nämlich recht hat, sogar eine mutige Debatte von ganz oben hätte anzetteln können. Und warum er nun doch schwer erträglich feige agiert und dadurch gefährliches Terrain betritt – für Deutschland und seine Partei. Merz hat recht, wenn man seine Aussage vom "Problem mit dem Stadtbild" auslegt als: Wir haben ein Problem mit der Sicherheit in Deutschland – und das auch wegen der Migration. Es stimmt und muss klar ausgesprochen werden: Ausländer sind als Tatverdächtige in der Kriminalstatistik im Vergleich zu ihrem Anteil in der Bevölkerung überrepräsentiert – wenn es um Mord und Totschlag, Körperverletzung, Vergewaltigung, Nötigung und sexuelle Übergriffe geht. Oft sind sie auch bei Amokläufen und -fahrten oder Messerangriffen im öffentlichen Raum die Täter. Sie sorgen so für Meldungen, die ein Land erschüttern: über blutige Opfer in Bahnabteilen, zu Dutzenden niedergemähte Weihnachtsmarkt-Besucher, ertränkte Frauen in Bächen. Bei jedem schlagen diese Taten und die dazu gehörenden Bilder anders an. Angst ist eben nicht rational, sondern hochindividuell. Bei mir grub sich zum Beispiel der U-Bahn-Treter von Berlin tief in die Hirnwindungen. Falls Sie damals das Überwachungsvideo der Tat gesehen haben, können Sie sich vermutlich erinnern: 2016 trat der Bulgare Swetoslaw S. eine junge Frau vor der Treppe einer U-Bahn-Haltestelle unvermittelt und brutal in den Rücken. Die ahnungslose 26-Jährige stürzte wie eine Puppe mehrere Stufen hinab. Mit viel Glück brach sie sich nur einen Arm und verletzte sich am Kopf. Sie hätte tot sein können. Dem Täter war das offensichtlich vollkommen egal. Die Bahn ist immer noch mein bevorzugtes Verkehrsmittel in Berlin. Ich fahre damit tagsüber wie nachts, nüchtern wie betrunken. Doch eines tue ich nicht mehr: Am Ende von Treppen stehen bleiben – oder gar nah am Gleis auf die Bahn warten. Vor allem nicht, wenn junge Männer mit mir warten. Gewalt gegen Frauen sei ein reines Männerproblem, habe gar nichts mit Migration zu tun – das ist der Satz, den ich von linker Seite sehr häufig höre. Dieser Satz aber ist wie Merz' Katze: korrekt und gefährlich falsch zugleich. Natürlich töten, vergewaltigen, missbrauchen und belästigen deutsche Männer Frauen. Meine Eltern haben mich mit 15 zu einem Selbstverteidigungskurs bei der Polizei geschickt. Ich lernte dort, was viele junge Frauen in Deutschland lernen: Wie man sich auf dem Heimweg alleine Schlüssel zwischen die Finger steckt und damit in Männeraugen stößt. Wie man im richtigen Winkel mit der flachen Hand und voller Wucht von unten auf die Nasenspitze schlägt, damit der Knochen sich ins Gehirn schiebt. Wie man Kehlköpfe packt und herausreißt. Wie man dem Angreifer so heftig in die Hoden tritt, dass ihm möglichst lange die Luft wegbleibt. Wie man sich mit 1,56 Meter ein wenig Zeit verschafft, um wegzurennen, um sich zu retten. Das war die Realität von Frauen in Deutschland schon 2001, lange vor der Flüchtlingskrise. Ich lebte damals in einem 600-Seelen-Dorf, in dem Merz ganz sicher kein Problem mit dem Stadtbild gesehen hätte. Denn das Bild dort waren: viele Friedrichs, gar keine Mohammeds. Natürlich aber verschärft sich das Problem, wenn viele Männer aus Kulturen stammen, in denen Frauen keine Rechte besitzen und vom Staat oder der dominanten Religion abgewertet werden. Ich habe 2016 zeitweise in einer Unterkunft für unbegleitete Flüchtlinge Deutschunterricht gegeben. Dort unterrichteten wir Teenager ab 14 Jahren, meist junge Afghanen, in der Regel Muslime. Manche konnten Englisch, manche waren selbst in ihrer eigenen Sprache Analphabeten. Was mir am stärksten in Erinnerung blieb: Sie wussten nichts über Frauen. Dass Frauen einmal im Monat bluten, was Tampons sind? Unbekannt. Dass ihre Klassenkameradinnen kurze Röcke tragen? Für einige von ihnen nicht nur schwer zu verstehen, sondern anhaltend "haram" – also unrein, verboten, Tabu. Eine religiöse Kategorie, die es in Deutschland so eigentlich lange nicht gab, und aus der schnell Abscheu, Abwertung, Gewalt und Hass erwachsen kann. Wir müssen diese Probleme öfter, offener und klüger adressieren. Merz allerdings hat nichts davon getan. Dabei wäre es so einfach gewesen. Er benannte nichts, berief sich nicht auf Fakten, flüchtete sich erst in Raunen und dann zu den Frauen. So stahl er sich gleich zweifach aus der Verantwortung. Denn erstens stehen Frauen ganz sicher nicht in seiner Schuld. Es waren nicht Konservative und Rechte, die Emanzipation und Freiheit deutscher Frauen erkämpften. Zu deren Rettern schwingen sie sich erst auf, wenn es gegen Migranten geht. Ein Beispiel gefällig? Erst 1997 beschloss der Bundestag, dass auch in einer Ehe eine Vergewaltigung eine Vergewaltigung ist. Es hatte so lange gedauert, weil die Union und die FDP sich jahrelang sperrten. SPD und Grüne peitschten das Thema damals aus der Opposition heraus auf die Agenda. Und bei der entscheidenden Abstimmung – da stimmte Friedrich Merz dagegen. Stattdessen stimmte er für eine Widerspruchsklausel, nach der die Strafverfolgung gestoppt werden könnte, wenn die Ehefrau ihre Anzeige zurückzieht – selbst wenn sie dafür unter Druck gesetzt wurde. Merz, der Schützer der Frauen? Mehr Heuchelei geht kaum. Zweitens ist Merz Vorsitzender einer Partei, die all die Zustände, die er nun beklagt, maßgeblich zu verantworten hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte es nach wie vor für richtig, dass Merkel die Schutzsuchenden 2015 nicht abwies. Die große Schuld aber setzte danach ein: Als die Regierung nämlich die Hände in den Schoß legte und über Jahre im ganzen Land Ehrenamtliche mit den Hunderttausenden Neuankömmlingen alleine ließ. Nicht ansatzweise wurde für genügend Integrationshelfer, Deutschlehrer, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten gesorgt. Die Ehrenamtlichen werden heute von vielen abfällig als "naive Gutmenschen" tituliert. Niemand aber hat mehr von ihnen profitiert als die CDU. Statt sich ehrlich zu machen und Probleme durch vernünftiges Regieren zu lösen, betritt Merz mit seinem Raunen über das "Stadtbild" lieber gefährliches Terrain. Es ist das Terrain der AfD. Seine Aussagen gehen in Richtung des Hauptgrunds, warum die Partei vom Verfassungsschutz beobachtet wird: ein völkisches Verständnis. Denn Merz verbindet begriffliche Schwammigkeit mit gewünschter politischer Aktion und bleibt dabei im Äußeren verhaftet. In seinem "Stadtbild" schwingen Hautfarben mit und Migrationshintergründe – unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Bezeichnend, wer Merz mit am lautesten dafür feiert: Martin Sellner, Rechtsextremist aus Österreich. Der trug in die AfD die Idee von der "Remigration", worunter Sellner Massenabschiebungen versteht – auch von deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund. Ob Merz heimlich seine Werke gelesen habe, fragt Sellner jetzt etwa genüsslich auf der Plattform X. Oder: "Stadtbild war schon mal geil. Welches Wort soll ich Merz als nächstes vorschlagen?" Bleibt die CDU auf diesem Kurs, ist das fatal für dieses Land und gefährlich für Millionen Deutsche. Mindestens ebenso gefährlich aber ist es für die CDU. Denn auf dem Heim-Spielfeld der AfD kann sie diese niemals besiegen. Am Montagabend, wenige Stunden nach Merz' Pressekonferenz, war ich bei einer Veranstaltung der AfD in Schwerin. Zu Gast: Beatrix von Storch . Die frohlockte: Merz habe mit dem "Stadtbild" wie schon bei den "kleinen Paschas" bewiesen, dass er eine Gabe habe und mit einem Wort sehr viel ausdrücken könne. Nur scheue er am Ende davor zurück, wirklich Klartext zu reden. Den Klartext übernahm dann von Storch: Wie "in Bagdad" habe sie sich bei ihrer Fahrt mit der Bahn an einer Haltestelle gefühlt, weil da eine Gruppe junger Männer stand. "Ich möchte mit denen nicht um 23 Uhr am Bahnhof stehen", so von Storch. Und: "Ich habe Angst vor denen." Der Saal applaudierte laut. Zeit für den Kanzler zu verstehen: Die Räume, die er mit seinem Raunen schafft, die füllt die AfD. Und die Frauen werden ihn nicht retten. Im Gegenteil: Frauen wie von Storch und Alice Weidel werden ihn jagen. Ohrenschmaus Passend zu Merz' Vereinnahmung der Frauen empfehle ich einen Klassiker der "Queen of Soul", Aretha Franklin. In dem singt sie einem Mann entgegen: "You better think, think about what you're trying to do to me" ("Du solltest besser nachdenken, denk darüber nach, was du mir antun willst"). Hier können Sie den Song hören, gesungen von Franklin im Film "Blues Brothers" . Was steht an? Sahra Wagenknecht vor Gericht: Das Landgericht Berlin verhandelt über eine Klage gegen die BSW-Vorsitzende wegen Äußerungen über den Musiker und Politiker Diether Dehm . Es geht um Aussagen, die der frühere Bundestagsabgeordnete der Linken und ehemalige Wagenknecht-Vertraute als ehrenrührig erachtet. Das Gericht hat das persönliche Erscheinen der Beteiligten angeordnet. Muss Israel helfen? Der Internationale Gerichtshof legt in Den Haag ein Gutachten zur rechtlichen Verpflichtung Israels vor, humanitäre Hilfe zu leisten. Es klärt die Frage, ob Israel mit den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen in den besetzten palästinensischen Gebieten zusammenarbeiten muss. EU-Parlament vergibt Menschenrechtspreis: Das Europaparlament gibt heute die diesjährigen Preisträger des Sacharow-Preises bekannt. Nominiert sind inhaftierte Journalisten aus Belarus und Georgien, Journalisten und humanitäre Helfer in Konfliktzonen weltweit sowie serbische Studenten. SPD-Politiker auf Reisen: Verteidigungsminister Boris Pistorius besucht Großbritannien, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzt einen Staatsbesuch in Österreich fort. Lesetipps Sie ist Trumps Allzweckwaffe: die 28-jährige Karoline Leavitt, Pressesprecherin des Weißen Hauses. Sie setzt Journalisten unter Druck – und verrät damit viel über die Kommunikationsstrategie der Regierung. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns erklärt ihre Methode . Die Weltlage ist brenzlig: In dieser Zeit hat der amerikanische Starautor T. C. Boyle ein Liebesdrama veröffentlicht. Im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke erklärt er, was sein Roman über die polarisierte US-Gesellschaft verrät . Trump droht seinem wichtigsten Verbündeten in Lateinamerika: Kolumbien soll keine Hilfsgelder mehr bekommen. Hintergrund ist der Konflikt der USA mit einem Nachbarn Kolumbiens , erklärt mein Kollege Simon Cleven. Der Wohnungsmarkt ist hart, Studenten haben kaum eine Chance . Am Kölner Stadtrand leben deswegen rund 30 Studierende in einer Notunterkunft , die einst ein Flüchtlingsheim war. Doch die Unterkunft muss Mitte November schließen. Unser Reporter Philip Buchen hat sie besucht . Zum Schluss Ich wünsche Ihnen eine gute Mitte der Woche. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie. Herzlichst Ihre Annika Leister Politische Reporterin im Hauptstadtbüro von t-online X: @AnnLei1 Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per E-Mail an t-online-newsletter@stroeer.de . Mit Material von dpa. 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