Grünen-Fraktionschefin Dröge: "Beeindruckende Verdrehung von Tatsachen"
Könnten die Grünen nach dem Fall der Brandmauer noch mit der Union regieren? Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge erklärt, warum sie Friedrich Merz nicht mehr glaubt – und eine Koalition trotzdem nicht ausschließt. Was ist da zerbrochen? In dieser turbulenten Woche im Bundestag, in der die politische Mitte nicht zusammengefunden hat – aber die Union in zwei Abstimmungen mit der AfD ? Es fehlt nun nicht nur an Vertrauen, sagt Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge im Interview mit t-online. "Es ist schlimmer, fürchte ich." Dröge erzählt, wie sie die stundenlangen und letztlich erfolglosen Gespräche der demokratischen Parteien am vorigen Freitag im Bundestag erlebt hat. Sie erklärt, warum die Grünen bei den Plänen der Union nicht mitmachen konnten, was sie stattdessen vorschlagen – und stellt Bedingungen für eine mögliche Koalition mit Friedrich Merz . t-online: Frau Dröge, hatten Sie das Gefühl, dass sich SPD und Grüne in der vergangenen Woche "niederträchtig" verhalten haben? Katharina Dröge: Wer wirft uns das vor? CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat die Aufforderung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenichs an die Union, das "Tor zur Hölle" zu schließen, so genannt. Linnemann warf SPD und Grünen vor, dem Zustrombegrenzungsgesetz nur aus wahltaktischen Gründen nicht zugestimmt zu haben, es sei gar nicht um die Sache gegangen. Das ist eine beeindruckende Verdrehung von Tatsachen. Es war Friedrich Merz, der gesagt hat: Ich lasse das im Bundestag abstimmen, egal, wer zustimmt, im Zweifel auch die AfD. Und er hat gesagt: Ich verhandele darüber mit niemandem, ich bestimme das. Er hat vor dem Mittwoch nicht mal den Versuch unternommen, mit SPD oder Grünen zu verhandeln. Es war umgekehrt: Wir haben der Union mehrfach angeboten, Gespräche zu führen, damit Demokraten eine Lösung finden. Die Union hat das abgelehnt. Die Fraktionsvorsitzenden von Union, SPD, Grünen und FDP haben vergangenen Freitag in verschiedenen Konstellationen über Stunden diskutiert, um zu einer Lösung zu kommen. Wann wussten Sie, dass es nichts wird? Unser Anliegen in den Gesprächen mit Union und FDP war es erst mal, wieder zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen, dass niemand mit der AfD zusammenarbeitet. Wir hätten uns die Einsicht von CDU und FDP gewünscht, dass das am Mittwoch ein Fehler war, der sich nicht wiederholen darf. Das war für uns eine wichtige Grundlage für inhaltliche Gespräche, weil in der Demokratie etwas ins Rutschen gerät, wenn die Brandmauer zu den Rechtsextremen nicht mehr steht. Und? Uns wurde recht schnell klar, dass beide nicht bereit sind, uns die Zusage zu geben, nicht noch mal mit Stimmen der AfD eine Mehrheit zu suchen. Wir wollten auch klären, ob es überhaupt ernsthaftes Interesse an Verhandlungen gibt. Und zwar an ergebnisoffenen Verhandlungen. Oder ob es weiter darum geht, dass Union und FDP sagen: Die Grundlage muss sein, was wir wollen, und nicht, was die anderen wollen. Unser Eindruck war, dass die Haltung von Merz unverändert war: Er wollte bestimmen, was die anderen machen. Ist es schlicht Vertrauen, das zwischen den demokratischen Parteien gerade fehlt? Es ist schlimmer, fürchte ich: Es sind die Regeln abhandengekommen, die Demokratie erfolgreich machen. Man vertraut sich mal mehr und mal weniger in der Politik. Aber Politik gibt sich bewusst Spielregeln, um trotzdem Mehrheiten finden zu können. Eine Spielregel ist, dass nicht einer alleine bestimmen kann, sondern man gemeinsam Kompromisse finden muss. Wenn Merz das infrage stellt, dann stellt er das Wesen der Demokratie infrage. Deswegen hat mich auch sehr besorgt, dass er gesagt hat: Wenn ich Kanzler werde, dann entscheide ich das allein, egal, was die Koalitionspartner sagen. So funktioniert Demokratie nicht. So kann er keine stabile Regierung führen. Merz hat auf dem Parteitag beteuert, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, nicht mit ihr zu regieren und sich auch nicht von ihr in einer Minderheitsregierung tolerieren zu lassen. Glauben Sie ihm? Ich würde ihm sehr gerne glauben, weil es so wichtig wäre für unser Land. Viele Menschen haben gerade Angst, dass Rechtsextreme in Deutschland Einfluss bekommen. Aber er hat sein Wort schon einmal gebrochen. Er hat im Bundestag im November versprochen, dass er nicht mit der AfD abstimmen wird. Das war seine Initiative, sein eigener Impuls. Ich habe ihm das im November geglaubt. Und trotzdem hat er jetzt im Januar anders gehandelt. Wer gibt mir die Garantie, dass er nicht im März wieder anders handelt? Das ist die erhebliche Erschütterung, die sein Wortbruch erzeugt hat. Das Zustrombegrenzungsgesetz, um das es Freitag ging, sieht vor, dass die Bundespolizei eine eigene Kompetenz für Abschiebungen in ihrem Zuständigkeitsbereich bekommt und dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige ausgesetzt wird. Warum konnten Sie da inhaltlich nicht mitmachen? Zum einen gab es keine Verständigung, dass CDU und FDP in Zukunft nicht mehr mit der AfD stimmen, wie beschrieben. Wir hatten grundsätzlich angeboten, dass wir auch über das Gesetz der CDU verhandeln, aber eben auch über Umsetzung der EU-Asylreform GEAS. Denn wir sind überzeugt, dass Asylpolitik europäisch und nicht national geregelt werden sollte. Und alleine darüber gab es schon keine Verständigung. Insbesondere die Union wollte das nicht. Ihre Politik zielt ja darauf ab, die Grenzen Deutschlands in Europa zu schließen. Und das wäre das Ende der europäischen Asylpolitik. Und die inhaltlichen Gründe? Es ist nicht logisch, was die Union gerade tut. Sie behauptet, dass sie das alles mache, um schwere Gewalttaten wie in Aschaffenburg zu verhindern. Und dann schlägt sie vor, ausgerechnet den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten zu beenden. Damit begrenzt sie dann vor allem den Nachzug von Frauen und Kindern. Das finde ich in der Sache falsch. Und es wird auch nicht mehr Sicherheit bringen. Es sind ja nicht Frauen und Kinder, die schwere Gewalttaten begehen. Was soll dieser Vorschlag? Er ist menschlich hart. Und er führt zu Politikverdrossenheit. Weil es fatal ist, den Menschen zu sagen, wir schaffen mehr Sicherheit, und dann nur Dinge zu beschließen, die diese Sicherheit nicht bringen. Jetzt würde die Union wohl entgegnen: Es ist trotzdem richtig, den Zustrom von Migranten nach Deutschland zu begrenzen. Ist das ein Ziel, das die Grünen teilen? Die Union muss sich mal entscheiden: Redet sie über Sicherheit? Oder bringt sie nur ihre grundsätzlichen Vorschläge zur Asylpolitik ein? Wir Grünen wollen über Sicherheit reden. Das heißt: mehr Konzentration der Sicherheitsbehörden auf diejenigen, die als Gefährder und Straftäter bekannt sind. Ich widerspreche auch dem Vorwurf, dass die Ampel in der Asylpolitik nichts getan habe. Die Asylzahlen sinken ja gerade. Wir haben eine Reihe von Gesetzen beschlossen. Dass diese Gesetze in Verbindung mit der EU-Asylreform GEAS nicht ausreichen – dieser Nachweis ist nicht erbracht. Auch weil sie in der Umsetzung in den Bundesländern offensichtlich noch nicht überall angekommen sind. Das zeigt Bayern ja leider: Markus Söder hätte die gesetzlichen Möglichkeiten gehabt, den Täter von Aschaffenburg rückzuführen. Er hat es nicht getan. Hinzu kommt: Die Zuwanderung von Menschen in den Arbeitsmarkt brauchen wir ganz dringend. Trotzdem: Die Forschungsgruppe Wahlen hat ermittelt, dass eine Mehrheit von 63 Prozent der Deutschen die ausnahmslose Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen unterstützt, wie Merz sie fordert. Haben diese Menschen unrecht? Gleichzeitig wünschen sich die Menschen mehrheitlich eine europäische Lösung, wie eine andere Umfrage ergeben hat. Das Problem an der Debatte ist: Beides passt nicht zusammen. Ich kann nachvollziehen, dass es für viele erst mal einleuchtend klingt, Menschen, die irregulär nach Deutschland kommen wollen, einfach zurückzuweisen. Aber die Konsequenzen wären verheerend: Deutschland müsste 3.600 Kilometer Grenze absichern. Das hieße: Wir müssten wieder Dörfer an den Grenzen trennen, Schlagbäume errichten, überall Passkontrollen machen. Es gäbe stundenlange Staus. Pendler kämen nicht mehr gut zur Arbeit. Die Wirtschaft würde schwer belastet. Das hätte schlimme Folgen für den europäischen Binnenmarkt. Die mühsam verhandelte Reform des Europäischen Asylsystems wäre tot. Und mit dem Grundrecht auf Asyl wäre es auch nicht vereinbar. Ich glaube, diese Umfragen zeigen etwas anderes. Nämlich? Die Menschen wünschen sich Sicherheit. Das ist total nachvollziehbar nach solchen schlimmen Taten wie in Aschaffenburg. Sie wünschen sich aber gleichzeitig auch, dass keine Stimmung entsteht, in der Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte geschürt werden. Das zeigen ja jetzt auch wieder die großen Demonstrationen. Dazwischen gibt es einen großen Raum, in dem es der Job der Politik ist, sich auf etwas zu einigen, das wirklich hilft, Menschlichkeit wahrt und Europa nicht gefährdet. Wie wollen die Grünen mehr Sicherheit schaffen? Die letzten Terroranschläge und Gewalttaten sind nicht alle gleich, aber es gibt Muster. In Magdeburg und Aschaffenburg waren die Täter den Behörden bekannt und trotzdem ist nicht ausreichend gehandelt worden. Insbesondere im Fall Magdeburg hat der Informationsaustausch nicht funktioniert. Die Informationen sind nicht verknüpft worden. Das darf nicht sein. Wir müssen die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch der zuständigen Behörden verbessern. Wir brauchen gemeinsame Lagebilder und eine größere Verbindlichkeit im Datenaustausch, damit Gefährder erkannt werden. Dafür wollen wir auch das Bundesamt für Verfassungsschutz besser rüsten. Zweitens? Es gibt einige bekannte Gefährder und Straftäter in Deutschland, die zum Teil auch ausreisepflichtig sind. Auf die müssen sich die Behörden konzentrieren, wenn es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen geht. Für all das braucht es Datenaustausch, aber auch das Personal. Deswegen sind wir kritisch bei Maßnahmen, die personelle Kapazitäten der Behörden unnötig binden. Lassen Sie uns noch über ein anderes Thema reden, das die Menschen gerade umtreibt: die Wirtschaft. Friedrich Merz hat auf dem CDU-Parteitag die Wirtschaftspolitik Ihres Kanzlerkandidaten Robert Habeck scharf kritisiert. Sie habe zu "einer abrupt einsetzenden Welle der Deindustrialisierung" geführt. Wie viel Schuld trägt die Ampel an der Lage? Unsere Wirtschaft ist zum Glück deutlich stärker, als die CDU behauptet. Und: Es gibt natürlich einen eigenen Anteil an der schwierigen konjunkturellen Lage, aber es gibt auch einen erheblichen Anteil externer Faktoren. Die externen Faktoren sind der russische Angriffskrieg und die folgenden Energiepreisschocks. Das war für uns als Industrieland einfach sehr hart. Die Weltkonjunktur war nicht gut und aus der Corona-Zeit gab es auch noch Schwierigkeiten mit den Lieferketten. Das war die Grundlage, auf der wir arbeiten mussten. Robert Habeck hat dann viel geschafft, um eine schlimmere Rezession zu verhindern, indem er die Energiepreise stabilisiert und die Versorgungssicherheit gewährleistet hat. Aber welche Schuld trägt die Ampel? Wir haben eine Investitionsschwäche in Deutschland. Alle Wirtschaftsforschungsinstitute empfehlen uns, dagegen etwas zu tun. Wir Grünen hätten da gerne entschlossener gehandelt. Dass wir uns mit SPD und FDP nicht darauf einigen konnten, hier ausreichend etwas dagegen zu unternehmen, das war schlecht. Jetzt schlagen Sie in Ihrem Wahlprogramm eine 10-Prozent-Investitionsprämie für Unternehmen vor. Genau. Wir wollen zielgerichtete Investitionen anreizen mit Steuergutschriften. Und wir wollen auch mehr öffentliche Investitionen. Für beides fehlte auf Grund des starren Festhaltens von Christian Lindner an der Schuldenbremse das Geld. Die Schuldenbremse ist zur Investitionsbremse geworden. Wir konnten nicht das Notwendige tun. Deshalb ist jede künftige Bundesregierung sehr gut beraten, eine Reform der Schuldenbremse anzugehen. Und ich denke, die kommt auch. Selbst alle CDU-Ministerpräsidenten sind ja mittlerweile dafür. Merz traut sich nur nicht, das im Wahlkampf anzukündigen. Die CDU will auch mehr Investitionen, aber sie schlägt allgemeine Steuersenkungen für Unternehmen vor. Wäre das auch etwas, das die Grünen im Zweifel mitmachen? Die Steuersenkungspläne der Union sind enorm teuer. Aber wir haben nicht unbegrenzt Geld im Bundeshaushalt. Allgemeine Steuersenkungen führen nicht unmittelbar zu mehr Investitionen. Deshalb sind wir für die zielgerichtete Lösung mit der Investitionsprämie. Aber mit der Union sind wir uns zum Beispiel sehr einig, dass wir die Netzentgelte absenken müssen, um den Strom für die Menschen, aber auch für die Wirtschaft günstiger zu machen. Jetzt haben wir über mögliche Kompromisse mit der Union gesprochen, aber auch über den großen Streit der vergangenen Woche. Können die Grünen mit dieser Union unter Friedrich Merz noch regieren? Friedrich Merz bewirbt sich mit seiner Arbeit gerade nicht darum, Kanzler dieses Landes zu werden. So erratisch und impulsiv darf man ein Land nicht führen. Und gleichzeitig könnte dieses Land nicht mehr regiert werden, wenn jetzt alle ausschließen, miteinander zu koalieren. Das wäre das Schlimmste, was passieren kann. Demokraten haben den Job, miteinander Lösungen zu finden. Wir stellen uns der Verantwortung. Wenn es das Wahlergebnis hergibt, dann reden wir auch mit der Union. Christian Lindner sieht das anders. Er will, dass die FDP auf ihrem Parteitag beschließt, keine Koalition mit den Grünen einzugehen. Das ist schon interessant, weil er zur AfD nichts gesagt hat. Ich habe es schon nach dem Ampel-Aus gesagt: Die FDP ist gerade nicht regierungsfähig. Müssen die Grünen nicht aufpassen, sich selbst in eine Koalition mit der Union reinzuzwängen mit dem Argument "Wir oder die AfD"? Gibt es rote Linien? Wir erwarten, dass bei Verhandlungen nicht offengelassen wird, ob man sich alternativ Mehrheiten mit der AfD sucht. Sonst wäre es ja genau die Erpressungssituation der letzten Woche. Und natürlich haben wir eine Reihe an Kriterien, anhand derer wir bewerten, ob das geht oder nicht. Wir müssen weitere Schritte im Kampf gegen die Klimakrise hinkriegen. Und wir sind eine Europapartei. Einen offenen Bruch des Europarechts werden wir nicht mitmachen. Also auch den Fünf-Punkte-Plan von Friedrich Merz nicht, den er nach der Wahl ja weiterhin umsetzen will? Die deutschen Grenzen dichtzumachen – das können wir so nicht mitmachen. Das ist zerstörerisch für Europa. Es gibt also klare Anforderungen. Am Ende wird es ein Gesamtbild geben und nicht die eine Forderung, an der wir alles messen. Wir werden unsere Entscheidung davon abhängig machen, ob es grundsätzlich in die richtige Richtung geht. Wäre das Regieren nach der Wahl leichter mit einer Union ohne Friedrich Merz? Das muss die Union am Ende klären. Ich kann nur darauf hinweisen, dass wir in Nordrhein-Westfalen eine Landesregierung von CDU und Grünen haben, die sehr respektvoll, ruhig und sachlich zusammenarbeitet. Die Union kann auch anders. Mit einem Hendrik Wüst als Ministerpräsidenten, dem ja auch mal bundesweite Ambitionen nachgesagt wurden. Er zeigt zumindest, wie man vernünftig regieren kann. Haben Sie die Sorge, dass die demokratische Mitte auch nach der Wahl nicht zusammenfindet und es zu einer Minderheitsregierung kommt? Wir stellen uns diese Frage. Deswegen haben wir sie Friedrich Merz auch im Bundestag gestellt. Tut er das alles, um die Bedingungen für demokratische Parteien so hart zu machen, dass er danach sagen kann: Na gut, dann muss ich mich leider von der AfD tolerieren lassen? Die Union hat das, so habe ich es jetzt verstanden, für sich ausgeschlossen. Aber den Beweis wird sie nach der Wahl antreten müssen. Friedrich Merz könnte ja auch SPD und Grünen anbieten, seine Minderheitsregierung zu tolerieren und Gesetze zu machen, die alle gut finden. Wären Sie dafür zu haben? Nein. Er könnte ja immer drohen, es im Zweifel doch mit der AfD zu machen. Und das geht so eben nicht, das machen wir nicht mit. Frau Dröge, vielen Dank für das Gespräch.