Die CDU "hat die politische Mitte verlassen" – Politik und Medien am Tag nach dem Antragsbeschluss
Die Aufregung im Establishment der Berliner Politik und den Mainstreammedien nach den Ereignissen der 210. Bundestagssitzung im Berliner Reichstag sorgte im Anschluss der Abstimmung über einen Unionsantrag zur Asylpolitik für scharfe Kritik, Entsetzen, umgehende Einschätzungen und Warnungen. Alleinig die CDU als "kalkulierender" Antragsteller erfährt dabei Attacken. Die Grünen sprechen von "einem schwarzen Tag für die Demokratie". SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erklärte:
"Die Union ist aus der politischen Mitte dieses Hauses ausgebrochen."
Lange Gesichter im Reichstag bei der CDU, der SPD, den Grünen und der Linken. Begeisterung bei der AfD, so die grobe Zusammenfassung der ersten Reaktionen nach Bekanntwerden des Ergebnisses nach der Abstimmung, dem knappen Ergebnis von 348 Ja-Stimmen und 345 Nein-Stimmen zum "Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU".
Noch im Bundestag rief die SPD-Parteispitze alle anwesenden Abgeordneten zur publicityträchtigen Wahlkampfpressekonferenz im Reichstag auf. Das SPD-nahe RedaktionsNetzwerkDeutschland (RND) berichtete:
"Nach der Zustimmung des Bundestags zum Antrag der Union für eine Verschärfung der Migrationspolitik hat der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich eine Sitzungsunterbrechung beantragt. Nach einem solchen Votum dürfe man 'nicht so einfach zur Tagesordnung' übergehen.'"
Am heutigen Morgen veröffentlichte das Social-Media-Team der Partei ein Reaktionsvideo auf das Abstimmungsergebnis. Im X-Posting heißt es dazu:
"Friedrich Merz und die CDU haben im Bundestag erstmals mit den Rechtsextremen paktiert. Mit Deiner Stimme schützen wir die Brandmauer. Für Anstand und Demokratie in Deutschland. Es ist noch nicht zu spät."
Friedrich Merz und die CDU haben im Bundestag erstmals mit den Rechtsextremen paktiert. Mit Deiner Stimme schützen wir die Brandmauer. Für Anstand und Demokratie in Deutschland. Es ist noch nicht zu spät. #MittestattMerz pic.twitter.com/lhl7UXdihE
— SPD Parteivorstand ???????? (@spdde) January 29, 2025
In keinem der vorliegenden Reaktionen seitens der Politik und Medien erfolgt dabei eine Kritik an den 88 Stimmen der FDP, ohne die der Antrag kein Erfolg gehabt hätte.
Bundeskanzler Scholz erklärte am gestrigen Abend in der ARD, der 29. Januar sei "wahrscheinlich ein ganz bedeutender Tag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewesen." Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, wird mit den Worten zitiert:
"Klar ist, dass im Interesse unserer Gesellschaft, ein Wandel im Umgang mit illegaler Migration in Deutschland notwendig ist. Ich finde es enttäuschend, dass die demokratischen politischen Kräfte in unserem Land – auch in Zeiten des Wahlkampfs – nicht in der Lage waren, sich auf ein gemeinsames Vorgehen zu einigen und damit der AfD diese Bühne bereitet haben."
Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge erklärte noch am gestrigen Abend vor Journalisten nach einer Sondersitzung:
"Sie sehen uns ziemlich erschüttert. Ein Antrag hat eine Mehrheit nur deshalb bekommen, weil eine rechtsextreme Fraktion zugestimmt hat. Es braucht eine Zusage von ihm [Friedrich Merz], dass er in Zukunft so etwas nicht wiederholt."
Ricarda Lang von den Grünen resümierte:
"Friedrich Merz ist ab heute ein Getriebener der AfD."
Friedrich Merz ist ab heute ein Getriebener der AfD.
— Ricarda Lang (@Ricarda_Lang) January 29, 2025
Die Bild-Zeitung titelte am Abend, die Tagesschau berichtete darüber in ihrer 20-Uhr-Ausgabe:
"Nach Mehrheit dank AfD: Mehr als tausend Demonstranten vor CDU-Zentrale"
Die Tagesschau berichtet über die Demonstration vor der CDU-Zentrale in Berlin. Gefordert werden Verbote der Union und der AfD. pic.twitter.com/mhHCbOk2qG
— Critical Cat | (@Critical__Cat) January 29, 2025
Die Kundgebung trug das Motto: "Brandmauer statt Brandstiftung". Aufgerufen hatten unter anderem Amnesty International, die Organisation "Seebrücke" und das "Protestbündnis 'Widersetzen'". Laut Bild-Zeitung bezeichnete ein Redner das Konrad-Adenauer-Haus als "Haus der Schande".
Das ZDF belehrte die GEZ-Zahler zum Ablauf im Reichstag, bezogen auf die vor der Debatte stattgefundenen "Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus":
"(...) gab es im Bundestag zuvor das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit und speziell an die Befreiung von Auschwitz vor 80 Jahren. Wir denken also an einen Zivilisationsbruch, an Menschheitsverbrechen, die bis heute nicht zu fassen sind. Dazu gehört aber auch die Erinnerung, dass das nicht plötzlich und unaufhaltsam über Nacht kam. Die Nazi-Herrschaft baute sich ja über Jahre auf. Sie hatte Steigbügelhalter und Mitläufer und sie nutzte demokratische Mittel um an die Macht zu kommen."
Was für eine Überleitung von Marietta Slomka. Was für eine Mahnung: pic.twitter.com/ejy7AknpTP
— Dominik Dicken (@Domschi) January 29, 2025
SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser kritisierte ebenfalls rein die Unionsparteien, die ihrer Meinung aktuell "geschichtsvergessen" agieren würden, um wörtlich zu erklären:
"CDU und CSU haben heute erstmals im Bund die demokratische Mitte verlassen. Die Union hat gemeinsame Sache mit den Rechtspopulisten der AfD gemacht, um rechtswidrige Beschlüsse zu fassen."
Demgegenüber fragte AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel an die CDU gerichtet, "ob man die Brandmauer, die aus unserer Sicht undemokratisch ist, weiter aufrechterhält." Weidel erkannte in dem Bundestagsvotum einen "großartigen Tag für die Demokratie", um zu erklären:
"Wir sehen, dass bürgerliche Mehrheiten da sind und vernünftige Anträge beschlossen werden können".
Bundeskanzler Scholz präsentierte sich in der ARD mit eher mürrischer Stimmung, um den Zuschauern die Wahrnehmung mitzuteilen:
"Und deshalb, glaube ich, ist das Wichtigste, was bei der Wahl rauskommen muss – keine Mehrheit für Schwarz-Blau."
Bei einer Wahlkampfveranstaltung am Mittwochabend in Potsdam kritisierte auch die grüne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Ereignisse des Tages:
"Diese Demokratie, diese Freiheit, dieser Rechtsstaat ist das Wichtige, was wir haben, und wir werden es mit allem, was wir haben, verteidigen gegen Verfassungsfeinde, gegen Nazis, ob alte oder neue."
Die vom Bund geförderte Kampagnenorganisation Campact kündigte bereits laut dem RBB an, dass am kommenden Sonntag in Berlin erneut demonstriert werden soll. So soll ein geplanter Protestzug vom Reichstagsgebäude erneut zur am Tiergarten gelegenen CDU-Bundesgeschäftsstelle führen.
Ein RND-Leitartikel, mit dem Titel: "Der Preis ist zu hoch für die Demokratie", kommentierte den gestrigen Tag mit der Feststellung:
"Sollte die AfD in Deutschland eines Tages an die Regierung kommen, wird man rückblickend über diesen Januartag sagen: Da hat es angefangen. Und das ist die alarmierende Botschaft einer aufgewühlten Debatte im Bundestag."
Der Spiegel-Leitartikel forderte:
"Tabubruch im Bundestag – So darf Merz nicht weitermachen."
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