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Декабрь
2024

FDP nach Rücktrittsforderung: "Lindner muss noch lange nicht am Ende sein"

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Die Geschichte der Bundesrepublik kennt zahlreiche politische Rücktritte – und Forderungen danach. Derzeit sieht sich FDP-Chef Christian Lindner damit konfrontiert. Politologe Volker Kronenberg erklärt, wann Politiker zurücktreten. Die Bundesrepublik Deutschland war kaum gegründet, da trat 1950 mit Gustav Heinemann schon der erste Bundesminister zurück. Seitdem sind zahlreiche Politiker von ihren Ämtern zurückgetreten, aus unterschiedlichsten Gründen. Derzeit steht FDP-Chef Christian Lindner wegen des sogenannten D-Day-Papiers im Zentrum von Rücktrittsforderungen. Warum treten Politiker zurück? Warum ist ein Rücktritt nicht automatisch ein Scheitern? Diese Fragen beantwortet Volker Kronenberg, Politologe und Mitherausgeber des Buches "Rücktritte von politischen Ämtern" im Gespräch. t-online: Professor Kronenberg, das Wort "Rücktritt" ist aus dem politischen Alltag kaum wegzudenken: Mal werden etwa Rücktritte gefordert, mal werden Rücktritte ausgeschlossen. Wann treten Politiker zurück? Volker Kronenberg: Es gibt nicht den einen Grund für einen politischen Rücktritt, sondern es kann unterschiedliche Motive geben. Grundsätzlich können wir aber zwischen dem freiwilligen Rücktritt und dem erzwungenen Rücktritt unterscheiden. Der erzwungene Rücktritt dürfte öfter vorkommen, während der freiwillige Rücktritt eher Ausnahme ist, oder? Vermutlich ist das so. Oft sind die wahren Hintergründe nebulös. Bei erzwungenen Rücktritten müssen wir unterscheiden: Liegt der Grund in einer persönlichen Verfehlung oder übernimmt jemand politische Verantwortung für eine Fehlentwicklung? Für beides finden sich in der Geschichte der Bundesrepublik Beispiele. 1962 erzwang die FDP den Rücktritt von Franz Josef Strauß als Verteidigungsminister, 1993 trat Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück. Das sind gute Beispiele. Franz Josef Strauß hat in der sogenannten Spiegel-Affäre rund um veröffentlichte Informationen zur Bundeswehr 1962 mehr als fragwürdig agiert, die FDP-Minister schieden im Protest aus der Koalition mit der Union aus und kehrten erst nach Strauß' Rücktritt zurück. Seiters hingegen trat zurück, weil es bei einem Polizeieinsatz in Bad Kleinen gegen die RAF zu Todesfällen mit unklarem Hintergrund gekommen war. Unmittelbar nach dem Todesfall kursierten Fehlinformationen, zum Teil auch Spekulationen, und Versäumnisse staatlicher Behörden wurden offengetragen. Seiters übernahm die politische Verantwortung dafür – und zog die Konsequenzen. Rücktritte haben oft mit politischer Verantwortung zu tun, sind aber nicht zwangsläufig Folge persönlicher Verfehlungen. 1974 trat Bundeskanzler Willy Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurück, ein enger Mitarbeiter war als Spion der Stasi enttarnt worden. Wäre dies ein solcher Fall? Absolut. Brandt hatte sich persönlich nichts vorzuwerfen, auch die Öffentlichkeit forderte keineswegs seinen Kopf. Brandt trat trotzdem zurück, womöglich eröffnete ihm die Affäre auch einen Ausweg, denn er war amtsmüde. Der Blick in die Geschichte der Bundesrepublik zeigt allerhand Rücktritte. Lässt sich so etwas wie eine "Kultur des politischen Rücktritts" identifizieren? Nein. So etwas ist in Deutschland unbekannt. Es ist schon etwas erstaunlich angesichts der Tatsache, dass es bereits kurz nach Gründung der Bundesrepublik 1949 einen prominenten Fall des Rücktritts gab. Gustav Heinemann trat im Streit um die Wiederbewaffnung mit Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits 1950 von seinem Amt als Bundesminister des Inneren zurück. Langfristig hat es Heinemann nicht geschadet. 1969 wählte die Bundesversammlung den zur SPD konvertierten Politiker zum dritten Bundespräsidenten. Das ist ein wichtiger Punkt. Rücktritte sind nicht immer das Ende einer politischen Karriere. Sie können ein vorläufiger Endpunkt oder ein Aufbruch zu höheren Ämtern sein. Ein Rücktritt ist nicht zwangsläufig ein Scheitern, vom Scheitern sind diese Leute oft weit entfernt. Oft markieren sie Neuanfänge. Gegen FDP-Chef Christian Lindner stehen Rücktrittsforderungen wegen des sogenannten D-Day-Papiers im Raum , das den vorzeitigen Bruch der Partei mit der Ampelkoalition skizzierte. Wäre ein Rücktritt fällig? Mein Eindruck ist, dass dieser Vorgang medial und seitens der politischen Konkurrenz deutlich überbewertet wird. Abgesehen von der unpassenden Begriffswahl handelt es sich allerdings um übliche Prozesse in einer solchen Parteizentrale. Derartiges ist kein Grund für den Rücktritt eines Parteivorsitzenden. Zumal dann, wenn der dafür zuständige Bundesgeschäftsführer und sogar der Generalsekretär ihrerseits zurückgetreten sind. Christian Lindner ist Mitte 40 und gilt als ambitioniert. Würde er einen Rücktritt als FDP-Chef verkraften, nachdem er bereits als Bundesfinanzminister entlassen wurde? Lindner muss noch lange nicht am Ende sein. Am Ende sind es Machtfragen, die innerhalb einer Partei ausschlaggebend sind, ob jemand zurücktritt und falls ja, wer. Das Ende Lindners als Finanzminister, das selbstverständlich eine Entlassung und kein Rücktritt war, zeigt übrigens, wie sehr diese beiden Komplexe verbunden sind. Mit der Entlassung Lindners wollte Scholz politische Entschlossenheit demonstrieren, was im Falle vieler Rücktritte ebenfalls ein entscheidender Faktor ist. Lindner hat Erfahrung mit Rücktritt und Comeback: 2011 gab er das Amt des FDP-Generalsekretärs auf, zog sich nach Nordrhein-Westfalen zurück und führte die Partei, die 2013 aus dem Bundestag geflogen war, dort 2017 fulminant wieder hinein. Das war ein klassischer Rücktritt, um neue Konstellationen und eine Rückkehr auf die große Bühne vorzubereiten. Ein Rücktritt ist noch lange kein endgültiges Ende, kein Synonym für Scheitern und Niederlage. Immer wieder scheitern Politiker, nur um umso stärker zurückzukehren. Lindner kennt die Dynamik von Rücktritt und Comeback genau. Nun fordern Medien, Öffentlichkeit und auch die politische Opposition immer wieder den Rücktritt bestimmter Politiker. Gibt es bestimmte Rituale, die sich immer wieder bemerkbar machen? Nun, beim Rücktritt von Christian Wulff als Bundespräsident haben die Medien durchaus eine gewichtige Rolle gespielt. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe haben sich dann aber ziemlich entkräftet, nur war es zu spät. Wulff hatte mit dem Amt des Bundespräsidenten bereits relativ jung ein solch hohes Amt bekleidet, sodass eine Rückkehr in ein anderes Amt wenig opportun scheint. Rücktrittsforderungen haben weitreichende Auswirkungen. Daher ist journalistische Sorgfalt unerlässlich. Minister etwa sind Teil eines größeren Ganzen. In ihrer Funktion sind sie keine Privatpersonen, sondern Amtsträger. Ein Amtsträger kann zurücktreten, die individuelle Privatperson nicht. Mit dem Amtsträger wiederum sind politische Inhalte verknüpft, insofern ist Vorsicht geboten im Falle von Rücktrittsforderungen. 1995 erschütterte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von der FDP das System in gewisser Weise, sie trat aus Protest gegen den "Großen Lauschangriff" dann im Folgejahr zurück. Daran zeigt sich die Bedeutung des politischen Amtes. Was die Privatperson Sabine Leutheusser-Schnarrenberger tat, dürfte die wenigsten Menschen interessiert haben, der Rücktritt der Amtsträgerin hatte aber enorme Wirkung. Das war natürlich eine harte Entscheidung für sie, denn damit gab sie ganz herausragende politische Gestaltungsmöglichkeiten auf. Gibt es so etwas wie den alternativlosen Rücktritt in der Politik? Das ist ein ziemlicher Ausnahmefall. Mit fällt da der frühere schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel ein, der sich hoffnungslos im Skandal um die versuchte Diskreditierung Björn Engholms von der SPD verstrickt hatte. Das war schon ziemlich alternativlos angesichts der Dimensionen des Skandals. Wenn Glaubwürdigkeit restlos beschädigt ist, wird es eng. Bleiben wir bei der Glaubwürdigkeit der Politik. Bisweilen kommt der Vorwurf auf, dass Politiker trotz Affären oder Erfolglosigkeit an ihren Ämtern "kleben". Was ist Ihre Einschätzung? Diese Frage lässt sich empirisch kaum beantworten. Tatsächlich hat sich in Fragen der gesellschaftspolitischen Kultur etwas geändert, eine durchaus positive Entwicklung: Die Gesellschaft ist liberaler und pluraler geworden. Dinge, die einem Politiker früher zum Verhängnis geworden wären, werden heute anders bewertet. Scheidung, uneheliche Kinder etc. waren früher ein echtes Problem für die Öffentlichkeit. In solchen Moralfragen ist die Gesellschaft viel liberaler geworden. Friedrich Merz strebt ins Bundeskanzleramt, ihm wird eher Sittenstrenge nachgesagt und vorgeworfen. Sind das bereits Niederungen des beginnenden Wahlkampfs oder ist Merz in gewisser Weise aus der Zeit gefallen? Solche Vorwürfe sind oft überzogen. Ja, Merz ist Sauerländer, und ja, Merz ist katholisch – ja, und? Was Merz persönlich als Privatperson denkt, wie er zu Hause im Sauerland seine Werte lebt, ist seine Privatsache. Für die Öffentlichkeit zählt, was er als Bundesvorsitzender der CDU und Fraktionsvorsitzender im Bundestag politisch sagt und tut. Darüber müssen dann die Wähler im Februar entscheiden, ob sie ihn im Bundeskanzleramt wollen. Bis dahin kann aber noch viel geschehen. Sie halten die Union noch lange nicht für die Wahlsiegerin? Wir dürfen nicht vergessen: Umfragen sind immer nur Momentaufnahmen und können sich sehr schnell wieder ändern. Auch spielen falsche Annahmen eine Rolle. Die SPD betrachtete sich als Siegerin der Bundestagswahl 2021, tatsächlich entschied die Schwäche der Union die Wahl. Nicht Olaf Scholz und die Sozialdemokraten waren stark, sondern die Union schwach. Was auch vor allem eine Selbstschwächung war, weil Armin Laschet als Kanzlerkandidat nicht zuletzt aus den eigenen Reihen demontiert worden ist. Auch bei der kommenden Wahl wird es wieder spannend. Christian Lindner äußerte erneut Ambitionen auf das Amt des Bundesfinanzministers. Damit formuliert Lindner Machtanspruch und Gestaltungswillen als Vorsitzender für seine Partei in einer künftigen Bundesregierung . Dabei ist ihm klar, dass es bis dahin noch ein steiniger Weg ist. Weniger Gestern, mehr Morgen – darum geht es ihm. Christian Lindner, vergleichsweise jung an Jahren, weiß sehr genau, dass Rücktritte und Niederlagen nicht das Aus, sondern ein Tief und damit auch ein Wendepunkt zu etwas Neuem bedeuten können. Professor Kronenberg, vielen Dank für das Gespräch.