stern-Exklusiv: Lindner konfrontiert Koalition mit neuem Grundsatzpapier
Sofortige Abschaffung des Soli, Moratorium für neue Regulierungen: Christian Lindner hat der Koalition einen Plan vorgelegt, der es in sich hat. Provoziert er den Rauswurf?
In der Koalition kursiert nach stern-Informationen ein neues 18-seitiges Grundsatzpapier von Finanzminister Christian Lindner, das die Krise der Koalition weiter verschärfen könnte. Darin fordert Lindner eine "Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen", um "Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden".
Der Finanzminister drängt auf mehrere Sofortmaßnahmen und lehnt Änderungen an der Schuldenbremse sowie neue Sondervermögen strikt ab. "Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik, die quantitativ bedeutsam und grundsätzlicher Art ist", heißt es.
Der FDP-Chef geht mit dem Papier auf Konfrontation zu den anderen Koalitionspartnern, denn das Schreiben enthält Forderungen, die in der Koalition bislang als unverhandelbar galten. So fordert Lindner den sofortigen Einstieg in die Abschaffung des Solidaritätszuschlags und substantielle Änderungen an laufenden Gesetzesvorhaben, um Industrie und Mittelstand zu entlasten. "Die deutsche Wirtschaft benötigt umgehend neuen finanziellen und regulatorischen Spielraum, um auf ihre veränderten Rahmenbedingungen eigenverantwortlich reagieren zu können", schreibt Lindner.
Zumutungen für SPD und Grüne
"Als Sofortmaßnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbstständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt wird, entfallen", heißt es. "Verfassungsrechtliche Bedenken sowie die alleinige Entscheidungsfreiheit des Bundes ohne Beteiligung des Bundesrates legen dies nahe. Er sollte in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden. In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen."
Begleitend bringt Lindner eine Senkung der Körperschaftssteuer ins Spiel. "Um die Glaubwürdigkeit dieser Politik zu stärken, sollte zudem die Körperschaftssteuer in einem ersten Schritt unmittelbar im Jahr 2025 signifikant um zwei Prozentpunkte reduziert werden. Die weiteren Schritte sollten spätestens in 2027 und 2029 folgen." Für einen beschleunigten Bürokratieabbau drängt Lindner auf ein "sofortiges Moratorium zum Stopp aller Regulierungen" für die nächsten drei Jahre. Betroffen wären demnach auch Gesetze, die die Koalition noch plant und vor allem von der SPD vorangetrieben werden. "Neue Gesetzesvorhaben sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich ist, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Das gilt insbesondere für die vom Bundesminister für Arbeit und Soziales vorgelegte Fassung des Tariftreuegesetzes, für das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Entgelttransparenzgesetz, das Beschäftigtendatengesetz und die arbeitgeberfinanzierte Familienstartzeit." Lindner betont: "Sie alle passen in der aktuell diskutierten Form nicht zu den Herausforderungen des aktuellen wirtschaftlichen Umfelds."
Das Papier kommt zu einem äußerst sensiblen Zeitpunkt, weil sich die Koalitionspartner in der Wirtschaftspolitik völlig verhakt haben und in der Ampel der Glauben daran schwindet, dass sie bis zum Ende der Legislaturperiode hält. Lindners Schreiben ist auch deswegen so brisant, weil es wie ein historisches Déjà-vu anmutet. Im September 1982 unterbreitete der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff der sozialliberalen Koalition seine Vorschläge für eine Wirtschaftswende. Das berühmte "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" gilt bis heute als Scheidungsbrief. Die Vorschläge weichen so stark vom Regierungskurs ab, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt die Koalition auflöst. Die FDP-Minister treten zurück.
Christian Lindner stellt Klimaziele infrage
Das Schreiben Lindners liest sich auch als Zumutung für die Grünen. Ohne Wirtschaftsminister Robert Habeck namentlich zu nennen, knöpft sich Lindner dessen wirtschaftspolitische Vorstellungen vor. "Diese Denkrichtung setzt maßgeblich auf staatliche Technologieselektion und die damit verbundene Lenkung des Ressourceneinsatzes vorrangig durch Verbote und Subventionen. Die Wirtschaft soll sich im Detail an den Vorstellungen und Zukunftsideen der Politik ausrichten, die so die jeweiligen Gewinner und Verlierer festlegt", heißt es.
Weiter dürfte bei den Grünen aufstoßen, dass Lindner die nationalen Klimaziele infrage stellt und sie durch die europäischen Klimaziele ersetzen will. "Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen", schreibt der Minister. "Vielmehr gilt es, nicht die Rolle eines Vorreiters, sondern die eines Vorbilds anzustreben, das eine wachsende Volkswirtschaft mit der Reduktion der CO₂-Emissionen verbindet und durch strategisches Agieren die weltweite Emissionsreduktion steigert. Dazu gehört insbesondere, auch beim internationalen Klimaschutz auf die Bepreisung von CO₂ zu setzen und klimabezogene Transfers mit Augenmaß und nur im Gleichschritt mit anderen Staaten auszuzahlen."