ru24.pro
World News in German
Октябрь
2024
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
26
27
28
29
30
31

Will Kretschmann nachfolgen: Cem Özdemir, eine Kandidatur und drei Probleme

0
Stern 

Nun ist es offiziell: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir will der neue baden-württembergische Ministerpräsident werden. Kann das klappen?

Eines lässt sich ohne Übertreibung sagen: Im übernächsten Jahr wird in Baden-Württemberg eine Ära zu Ende gehen: Winfried Kretschmann wird nicht mehr für das Amt des Ministerpräsidenten antreten. 15 Jahre wird er der Landesvater gewesen sein, zweimal erfolgreich wiedergewählt. Für seine Partei, die Grünen, wurde er 2011 ihr erster Ministerpräsident – bis heute ist der 76-Jährige der einzige geblieben. 

Schon seit längerem war erwartet worden, dass Cem Özdemir ihm nachfolgen will. Seit diesem Freitag steht es fest: Der derzeitige Bundeslandwirtschaftsminister wird die baden-württembergischen Grünen in die Landtagswahlen 2026 führen. In einem Video auf Instagram packt der 58-Jährige ein Päckchen auf und zieht ein T-Shirt heraus. Die Aufschrift: "Cem 2Ö26". Ö wie Özdemir – "Jetzt kann's losganga", sagt er auf Schwäbisch in die Kamera.

Vielen bei den Grünen gilt der Minister als Idealbesetzung für die Nachfolge in Baden-Württemberg: Der einstige Parteichef ist erfahren, gilt wie Kretschmann als sehr pragmatischer Grüner – und als beliebt in Baden-Württemberg: Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Özdemir seinen Wahlkreis in Stuttgart mit 40 Prozent der Stimmen.

"Das wird Cems größte Herausforderung"

Klappt der Plan, er hätte Bedeutendes geschafft: Er wäre das erste Gastarbeiter-Kind in dem Amt. Seine Eltern kamen in den 60er-Jahren nach Deutschland und lernten sich in Bad Urach kennen. Özdemir selbst bezeichnet sich immer wieder als "anatolischer Schwabe". 

Grüne Jugend Leipzig8.25

Dass Özdemir für die Grünen das Ministerpräsidentenamt verteidigen kann, ist allerdings alles andere aus ausgemacht. "Das wird Cems größte Herausforderung", schreibt Reinhard Bütikofer, ehemaliger Parteivorsitzender der Grünen, auf Twitter. 

Özdemir steht vor drei gewaltigen Problemen. Die Ausgangslage heute ist eine andere, die Stimmung hat sich gedreht: Bei der Landtagswahl 2021 erzielte Kretschmann einen Rekordwert von 32,6 Prozent. Jetzt aber liegen die Grünen in den Umfragen nur noch bei 18 Prozent. Das ist zwar immer noch deutlich besser als der Bundestrend, doch auch in Baden-Württemberg wurden die Grünen in der Zwischenzeit von der CDU überholt: Der Juniorpartner in Stuttgart liegt mit 34 Prozent deutlich vorn.

Ist Minister in der unbeliebten Ampel

Dabei dürfte der "Ampel-Faktor" einen großen Anteil haben: Die Ampel ist unbeliebt wie keine Koalition zuvor, niemand will sie. Auf die Frage, welche Koalition das Land regieren sollte, nannten in einer Umfrage Mitte September null Prozent der Befragten die Ampel. Das Problem für Özdemir: Als Minister ist er ein prominenter Vertreter dieser Koalition. 

Klar, er versuchte sich immer wieder abzusetzen, etwa bei den Bauernprotesten zum Beginn des Jahres. Dass ein Teil der Kürzungen bei den Subventionen für die Landwirte abgeschwächt oder zurückgenommen wurden, verbucht der Landwirtschaftsminister bei sich. Doch ob das so ankommt? Özdemir und die baden-württembergischen Grünen dürften darauf hoffen, dass die Erinnerung an die Ampel im Jahr 2026 bei einigen Baden-Württembergerinnen und Baden-Württembergern schon etwas verblasst sein wird.

Hundeverbot Grüne CSU 16:51

Offen aber ist trotzdem, ob Özdemir weiter vom "Kretschmann-Effekt" profitieren kann. Dass Kretschmann 2011 Ministerpräsident in Baden-Württemberg wurde, bis dahin Stammland der CDU, hatte viel mit einer aufgeheizten Stimmung um das Großprojekt Stuttgart 21 und dem unglücklichen Agieren des damaligen CDU-Ministerpräsidenten, Stefan Mappus, zu tun. 

Vor allem aber kam es kurz vor der Abstimmung zu einer Katastrophe in Japan, die die Welt erschütterte: Ein Tsunami löste in mehreren Reaktorblöcken in Fukushima Kernschmelzen aus. Das Gefühl, dass die Grünen mit ihren vehementen Warnungen vor der Atomkraft recht gehabt haben könnten, half der Partei an den Wahlurnen. 

Gibt es den "Kretschmann-Effekt" auch für Cem Özdemir?

Kretschmann zog in die Villa Reitzenstein ein, dem Regierungssitz in Stuttgart – und wurde zweimal wiedergewählt. Seine Wiederwahl aber dürfte weniger damit zu tun gehabt haben, dass er ein Grüner ist. Sondern eher mit seiner Persönlichkeit. Der frühere Lehrer mutet oft wie ein Konservativer im Körper eines Grünen-Politikers an. Auch in der eigenen Partei wird immer wieder kritisiert, dass die grüne Politik teils auf der Strecke bleibe: In Baden-Württemberg etwa gibt es noch weniger Windräder als in Bayern – und das unter einem langjährigen grünen Landesvater.

Özdemir dürfte sich die größten Chancen ausrechnen, indem er an die Kretschmann-Linie anknüpft. Ihm bedeute es viel, "dass Winfried Kretschmann meine Entscheidung aus vollem Herzen unterstützt", schreibt Özdemir in einer persönlichen Erklärung zu seiner Kandidatur auf einer neu eingerichteten Webseite. "Für uns beide steht das Wohl des Landes immer an erster Stelle." Es gibt da auch durchaus Ähnlichkeiten. Beide werden dem äußersten Realo-Flügel der Grünen zugeordnet, gelten als eher wirtschaftsfreundlich, stellen sich immer wieder auch mal gegen die Parteilinie. 

Bei dem vielen Bürgerinnen und Bürgern wichtigen Thema der Migration fordern sowohl Kretschmann als auch Özdemir Verschärfungen. Özdemir kritisierte jüngst in einem Gastbeitrag in der "FAZ", dass seine Tochter in Berlin häufiger "von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden". Bei einigen Grünen, gerade vom linken Flügel, sorgte der Beitrag für Verstimmungen. Pragmatiker wie Kretschmann und Özdemir fordern ihre Partei immer wieder zu mehr Klarheit und Härte in der Frage auf.

Porträt Brantner14.20

Doch ob die inhaltlichen Ähnlichkeiten reichen werden, dass Özdemir als quasi-natürlicher Kretschmann-Nachfolger ins Amt kommt? Das ist zweifelhaft: Einer Umfrage zufolge halten es 55 Prozent der Baden-Württemberger für unwahrscheinlich, dass Özdemir nächster Ministerpräsident wird. Nur 23 Prozent trauten ihm zu, die Wahl zu gewinnen.

Und fest steht, dass die Grünen seit ihrer Regierungsbeteiligung im Bund besonders viel Ablehnung erfahren, manchen wurden sie regelrecht zum Feindbild Nummer 1. Im Februar mussten die Grünen eine Veranstaltung zum Politischen Aschermittwoch im baden-württembergischen Biberach absagen – wegen aggressiver Proteste vor der Halle.

Bislang weiß die Partei dem nur wenig entgegenzusetzen. Für Özdemir wird es deshalb auch darauf aufkommen, wie sich seine Partei nach dem Rückzug der derzeitigen Doppelspitze neu aufstellt. Darauf, wie sie dann in den Bundestagswahlkampf zieht – und wie sie dort abschneiden wird. Für Özdemir kann daraus eine gute oder eine schlechte Signalwirkung entstehen: Wenige Monate später, im Frühjahr 2026, geht es für den baden-württembergischen Spitzenkandidaten ans Eingemachte.