Nahost: AfD oder Agonie in Absurdistan: Warum Thüringen so verrückt ist
Wie Thüringen, das Land, in dem ich schon immer lebte, in diese extreme politische Lage geraten konnte – und welche Hoffnung trotzdem bleibt.
Der Tag, an dem Thüringen verrückt zu werden begann, war der erste Tag des Jahres 2009. Ich saß mit der Familie beim Abendessen im elterlichen Haus im Thüringer Wald, als das Telefon klingelte. Dieter Althaus sei schwer verunglückt, wurde mir gesagt. Ich müsse rasch in die Redaktion kommen.
Dieter Althaus: So hieß der Ministerpräsident, den ich schon lange als Journalist begleitete. Er war wenige Stunden zuvor beim Skifahren in Österreich frontal mit einer Frau kollidiert. Er trug einen Helm, sie nicht. Er lag im Koma, sie hatte es nicht überlebt.
Aus Althaus' persönlicher Tragödie entwickelte sich ein politisches Großdrama. Die Frequenz der Schlagzeilen war unerbittlich: Althaus in ein Thüringer Krankenhaus verlegt. Althaus in der Reha am Bodensee. Althaus wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Althaus in Abwesenheit zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl bestimmt. Althaus in die Staatskanzlei zurückgekehrt. Althaus nach Wahldesaster von allen Ämtern zurückgetreten.
Es war wie eine schlechte Serie, die sich nicht abschalten ließ. Und sie wurde bundesweit übertragen. Nie zuvor hatte ich derart viele Kamerateams und Journalisten im kleinen Erfurt gesehen.
So rasant der Verkauf der Skihelme stieg, so rasch sank das Ansehen Thüringens. Das allein von der CDU regierte Land, dessen Image irgendwo zwischen Bach, Biedermeier und Bratwurst oszillierte, wurde fortan zum Ort gleichermaßen skandalöser wie spektakulärer Begebenheiten.
Während eine fassungslose Bundesrepublik von den Morden der NSU-Terroristen aus Jena erfuhr, zerfiel die ewig regierende Landes-CDU in zwei sich erbittert bekämpfende Lager und verlor 2014 schließlich ihre Macht an den ersten Linke-Ministerpräsidenten namens Bodo Ramelow. Gleichzeitig zog der hessische Geschichtslehrer Björn Höcke samt seiner AfD in den Erfurter Landtag ein und sorgte dafür, dass aus einer rechtspopulistischen Partei eine extreme Widerstandsbewegung wurde.
Ein Zweikampf auf Kosten der anderen
Ramelow gegen Höcke: Das wurde der Zweikampf zur Landtagswahl 2019, in dem es die CDU, aber auch die Regierungsparteien SPD und Grüne zerrieb. Im Ergebnis waren Linke und AfD gemeinsam so stark, dass ohne sie nicht regiert werden konnte. Parallel dazu hatte die rot-rot-grüne Koalition ihre knappe Mehrheit eingebüßt.
Die verzwergte CDU, durch innere Kämpfe gelähmt und in Abgrenzungsbeschlüssen gefangen, lehnte jeden Minimalkonsens ab. Als Linke, SPD und Grüne dennoch trotzig die Ministerpräsidentenwahl mit Ramelow ansetzten, ließ sich die Union von der AfD in die taktische Falle führen und wählte mit ihr in geheimer Wahl einen gewissen Thomas Kemmerich, der zuvor die FDP mit 5,0005 Prozent in den Landtag geführt hatte. Damit gab es seit 1945 den ersten Regierungschef, der dank Rechtsextremisten ins Amt gelangt war.
Der Rest ist deutsche Geschichte: Angela Merkels verfassungswidrige Ansage in Pretoria, die Wahl rückgängig zu machen. Christian Lindners Ultimatum an Kemmerich. Annegret Kramp-Karrenbauers Rückzug von der CDU-Spitze. Ramelows Wiederwahl dank der Union.
Danach: Die De-facto-Tolerierung einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung. Die erst versprochene und dann abgesagte Neuwahl des Landtags. Die wechselnden Mehrheiten, mal CDU mit der Linkskoalition, mal CDU mit AfD und FDP.
Und nebenbei die Krisen dieser Zeit: Pandemie, Kriege, Inflation.
Björn Höcke in Barbarossa-Pose
Dass es dann am vergangenen Wahlsonntag so kam, wie es kam, konnte niemanden überraschen. Während in Sachsen die AfD weder einen Anspruch auf die Landtagsspitze noch eine Sperrminorität hat und dort zumindest die Chance besteht, eine Mehrheitsregierung zu bilden, führt in Thüringen ein in Barbarossa-Pose versteinerter Höcke die stärkste Fraktion. Und er besitzt mit mehr als einem Drittel der Sitze die Macht, das Land in eine Verfassungskrise zu führen.
Gleichzeitig ist keine stabile Mehrheit in Sicht. Die CDU benötigt zum Regieren neben der SPD nicht nur den radikalpopulistischen Gemischtwarenladen BSW. Die Union muss auch wieder reden mit Ramelow, in dessen Inneren der staatstragende Thüringenretter und der taktische Machtpolitiker miteinander ringen.
Denn: Es reicht wieder nicht zur Mehrheit gegen Linke und AfD. Stattdessen existiert nun ein Patt, das einen Handel mit der implodierten Linken nötig macht. Derweil muss die AfD mal wieder nur dabei zusehen, wie sich die anderen Parteien gegenseitig ausmanövrieren. Und in Berlin? Da wird mal wieder am allerbesten gewusst, was in Thüringen passieren soll oder keinesfalls passieren darf. Oder beides.
Alles fühlt sich so an wie in der irren Kemmerich-Krise im Februar 2020. Damals begrüßte die linke Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow, die später nach Berlin auszog, um als Linken-Chefin das Fürchten zu lernen, uns landtagslungernde Journalisten mit dem Gruß: "Guten Morgen in Thüringen! Wieder ein neuer Tag in Absurdistan!"
Das war leider kein Witz. Und das ist es bis heute nicht.
Aber ich lebe gerne in diesem Land, trotz allem. Wenn Sie mir das nicht glauben möchten, können Sie ja mal nach Erfurt kommen, wo ich wohne, oder nach Jena, wo ich geboren wurde, oder in den Wald, in dem ich aufwuchs, und in dem sich zwischen sterbenden Fichten neues Leben regt.
Ich gehöre übrigens zu jener großen Mehrheit der Wähler in Thüringen, die nicht für die AfD stimmten, sondern die eine leise, fast schon verzweifelte Hoffnung hegten, dass eine demokratisch gesinnte Mehrheitsregierung entstehen könnte, die gestaltungsbereit ist und das erodierte Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik wieder etwas stärkt. Doch was in mir gerade vorherrscht, ist eine große Erschöpfung.
Denn jetzt gibt es in Absurdistan scheinbar nur die Alternative zwischen Agonie und AfD. Wenn sich die Parteien nicht halbwegs einigen, ist ein rechtsextremer Landtagspräsident möglich und ein Ministerpräsident Höcke nicht ausgeschlossen.
Und dennoch. Nichts ist vorgegeben, nicht auf einer Skipiste, nicht in der Politik und ja, nicht einmal in diesem verrückten Thüringen. Es sind eben nicht bloß die Umstände, die unser Leben bestimmen. Es sind unsere Entscheidungen.