Björn Höcke: Diese Wahl könnte seinen Abstieg einläuten
Björn Höcke galt in der AfD lange als unantastbar. Doch jetzt wackelt er. Diese Wahl könnte seine Zukunft entscheiden. Es ist Wahlkampfabschluss der AfD in Erfurt. Zeit für das große Finale, die ganz großen Versprechen. Für das Vortäuschen, man habe tatsächlich Aussicht darauf, zu regieren, wenn die Zuhörer wählen gehen, noch rasch ihre Nachbarn überzeugten, all die Zögerlichen, die Nichtwähler. AfD-Chefin Alice Weidel ist dafür nach Thüringen gekommen, zum ersten Mal in diesem Wahlkampf. Weidel flirtet erst mit dem Osten, preist die Freiheit, die gedankliche Unabhängigkeit hier. Dann verspricht sie: Wenn die AfD regiere, werde sie als ersten Akt die Antifa als terroristische Vereinigung verbieten. Auch gegen die Presse will sie vorgehen, den "Staatsfunk schrumpfen". Den Journalisten, die dann ihre Jobs verlören, denen tue die AfD einen Gefallen, höhnt Weidel – die könnten endlich wieder einem vernünftigen Job nachgehen. Mit der AfD gebe es außerdem eine "echte Migrationswende" – und nicht nur einen Abschiebeflug nach Afghanistan kurz vor den Landtagswahlen. "Wahlbetrug", schimpft Weidel. Die Menge jubelt, klatscht rhythmisch. "Abschieben, abschieben", tönt es aus Hunderten Kehlen. Den Nazi-Spruch "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus", haben sie schon im Chor angestimmt, bevor Weidel die Bühne betreten hat. Später wird die Polizei mitteilen, dass aus der Versammlung heraus mehrfach der Hitlergruß gezeigt worden sein soll. Man ermittle. Höckes Stern sinkt Björn Höcke ist noch nicht zu sehen, der Thüringer Spitzenkandidat hält sich im gut abgeschirmten Bereich hinter der Bühne auf. Doch dem Mann, der gerichtsfest "Faschist" genannt werden darf, dürfte Weidels Rede gut gefallen haben – ebenso wie die Aktionen seines Publikums. Politische Kritiker verbieten, die Presse einschränken, gegen Migranten vorgehen, das alles auch mit Grausamkeit, mit Gewalt – es ist die totalitäre Politik, von der er und der von ihm ins Leben gerufene rechtsextreme "Flügel" in der AfD seit Jahren träumen, die sie versprechen, auf die sie mit viel Geduld hinarbeiten. Jetzt vertritt Teile davon auch Weidel, die Chefin der Partei, die einst Höckes erbitterte Gegnerin war und ihn sogar hinauswerfen wollte aus der AfD. Es ist ein Zeichen von Höckes Macht: Ideologisch haben er und der rechtsextreme "Flügel" der AfD ihren Stempel aufgedrückt. Bis der "Flügel" zur Partei wurde. Auf 20 bis 30 Prozent schätzen AfD-Funktionäre unter der Hand den Anteil der vergleichsweise etwas gemäßigteren Nationalkonservativen noch. Tendenz sinkend. Eine vernachlässigbare Größe. Höcke, ein maßgeblicher Treiber hinter diesem Prozess, sollte jetzt eigentlich auf der Höhe seiner Macht sein. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sein Stern sinkt. Geschwächt wirkt er schon seit Monaten, immer wieder wird er angeschossen aus dem eigenen Lager, im Bund und sogar im eigenen Landesverband. Viel hängt von dem Ergebnis dieser Landtagswahl für Höcke ab. Die sollte ihn eigentlich krönen – doch sie könnte für ihn auch den Anfang vom Abstieg bedeuten. Heulsuse statt Hitler 2.0 Einiges davon hat mit Höckes Wahlkampf zu tun. Ein Schatten im Hintergrund war er lange, aktiv hinter den Kulissen, aber außerhalb von Thüringen kaum direkt erlebbar. Eine gewaltige Projektionsfläche. Als inoffiziellen Parteichef beschrieben ihn Medien, als Hitler 2.0, immer kurz vor der Machtergreifung in der Partei. Im Wahlkampf trat Höcke aus dem Schatten. Er musste es, zwangsweise. Interviews mit der ihm verhassten kritisch denkenden Presse, TV-Duelle, Wahlkampfarenen – auch ein Rechtsextremist muss sich diesen Automatismen vor einer Wahl beugen, will er Massen außerhalb der eigenen Blase erreichen. Doch Höcke machte dabei oft keine gute Figur. AfD-Politiker haben damit oft zu kämpfen: Sie gären zu sehr im eigenen Saft, es fehlt der Kontakt, die Auseinandersetzung mit Kritikern. Dünnhäutig und larmoyant reagierte Höcke vor laufenden Kameras auf Anwürfe der politischen Konkurrenz, unsouverän verweigerte er sich naheliegenden Fragen von Journalisten. Es war die große Entzauberung vor laufenden Kameras: eher Heulsuse als Hitler 2.0. Am Mittwoch zog Höcke die Reißleine: Seinen letzten TV-Auftritt sagte er kurzfristig ab. Schlecht geschlafen habe er, hieß es zuerst. Später sprach Höcke von einem Virus, das ihn zwang, der Toilette nah zu bleiben. Nur: Am nächsten Tag stand er wieder auf der Bühne. Der Eindruck blieb: Jetzt drückt er sich auch noch. In der AfD schütteln viele über Höckes TV-Auftritte den Kopf, andere lachen herzlich. Je nachdem, ob sie sich eigentlich mehr erhofft hatten von ihrem Spitzenkandidaten und dem Thüringer Wahlkampf – oder ob sie dem "großen Zampano", wie ihn manche nennen, den großen Sturz schon lange gönnen. Seine Truppen schrumpfen Und von diesen Leuten gibt es in der AfD viele. Das ist zwangsweise so, Höcke ist schließlich seit 2013 Landesvorsitzender in Thüringen, seit 2014 zudem Chef der Fraktion im Landtag – und er hat sie bundesweit massiv geprägt. In der AfD ist das eine halbe Ewigkeit. Um das zu schaffen, hat Höcke Konkurrenz weggebissen und Kritiker kaltgestellt – beziehungsweise: kaltstellen lassen. Er nutzte dabei den Kadavergehorsam, der rechtsextremen Gruppierungen eigen ist: Wendest du dich gegen einen von uns, vor allem gegen unseren größten, dann machen wir dich fertig. Es gab Zeiten, da hätte niemand aus dem Flügel es öffentlich gewagt, ein schlechtes Wort über Höcke zu sagen. Maßgeblich für die Einhaltung dieses Gehorsams, für Angst und Schrecken im Sinne Höckes, hat in der Partei lange Andreas Kalbitz gesorgt. Der ehemalige Brandenburger AfD-Chef war seine rechte Hand – und sehr oft war diese Hand geballt zur Faust. Kalbitz ging skrupellos gegen Gegner vor, haarsträubende Geschichten erzählt man sich von ihm in der Partei. Und Kalbitz organisierte mit diesen Methoden auch außerordentlich erfolgreich die Mehrheiten für Höcke auf Bundesparteitagen. Doch Kalbitz ist 2020 aus der Partei ausgeschlossen worden, seine Mitgliedschaft wurde annulliert. Und Höcke, dem Ideologen, dem Denker und Schreiber, fehlt seither seine rechte Faust. Sein Vize und Pressesprecher Torben Braga versucht, das Loch zu füllen, zieht Strippen im Hintergrund. Doch immer wieder fällt auf Parteitagen auf: Höckes Truppen schrumpfen und sind nicht mehr sonderlich gut organisiert. Kritiker im Landesverband begehren auf Im Flügel, der nun einen Großteil der Partei ausmacht, ist das ein Problem. Denn der fragmentiert zunehmend, der Wille zur Macht ist auch bei anderen stark – und Höcke nun verwundbar. Mit Methoden, mit denen er früher wohl ohne großes Aufsehen durchgekommen wäre, löst er heute schlagzeilenträchtige Proteste aus. So verweigerten er und der Thüringer Vorstand zwei eigentlich demokratisch gewählten Direktkandidaten die Unterschrift – und damit ihre Kandidatur. Doch Kritiker protestierten, gingen an die Öffentlichkeit und prangerten Niedertracht, Egoismus, sogar Stasi-Methoden ihres Vorstands an. Statt geschlossen wirkt der AfD-Verband derzeit zutiefst uneins. Ein schlechtes Signal im Wahlkampf und eine Ablenkung für Höcke. Weidel und Höcke – die zwei Gesichter der AfD Und auch die Bundesspitze geht auf Distanz: Ihr Auftritt in Erfurt ist Weidels einziger im Thüringer Landtagswahlkampf. In Sachsen war sie allein in der vergangenen Woche dreimal. Ihr Co-Chef Tino Chrupalla reist als Sachse ohnehin viel häufiger in die Heimat. Es wirkt, als beobachteten die Vorsitzenden den möglichen Fall des Mannes, der sie auf Parteitagen so oft vor sich hertrieb, genüsslich aus der Ferne. Weidels Umfeld bestreitet das: Der Grund seien rein organisatorische Gründe, heißt es da. Der Wahlkampf in Sachsen werde sehr viel dezentraler geführt, Weidel sei von unterschiedlichen Stellen eingeladen worden und habe zugesagt. Thüringen arbeite unabhängiger von der Parteizentrale. Doch besonders Weidel dürfte froh sein, wenn Höckes Macht beschnitten wird. Für sie ist er Konkurrent und potenzielle Gefahr, auch wenn er sich offiziell nie auf das bundespolitische Pflaster gewagt hat. Nach außen reicht niemand an ihre Prominenz heran – außer eben der so oft dämonisierte Thüringer Landeschef. Weidel und Höcke – sie sind die zwei Gesichter der AfD. Und Höcke hat Weidels Bundestagswahlkampf schon jetzt einen Stempel aufgedrückt, wie er stärker nicht sein könnte: Seitdem er vor Gericht für die Nutzung und Verbreitung der Nazi-Parole "Alles für Deutschland" stritt, ist "Alice für Deutschland" Weidels neuer inoffizieller Wahlkampfslogan. In Erfurt rufen ihn einige im Chor, bevor Weidel auftritt. Manche tragen den nur leicht abgewandelten SA-Spruch sogar auf T-Shirts gedruckt. Wenn Weidel als Kanzlerkandidatin für die AfD bei der Bundestagswahl im Herbst 2025 antritt, was als ausgemacht gilt, kann sie Höckes Bannspruch nicht entrinnen. Weidel, die sich aus dem Justizstreit um die Nazi-Parole weitgehend heraushielt und sich ungern unterordnet, dürfte das nicht gefallen. Kann er seine Versprechen halten? Höcke also steht unter enormem Druck, er muss seine Versprechen zumindest zum Teil einlösen und an diesem Wahlsonntag ein gutes Ergebnis einfahren. Eigentlich sogar ein fantastisches. Doch hier hat sich in den letzten Wochen Ernüchterung eingestellt: In Umfragen zumindest liegt die AfD in Thüringen schon länger stabil bei 30 bis 31 Prozent. Holte sie das tatsächlich an der Wahlurne, wäre sie mit weitem Abstand stärkste Kraft. Ein sehr gutes Ergebnis – aber eben weit unter den Erwartungen, die Höcke unter seinen Anhängern peitscht. Ministerpräsident will er schließlich werden oder wenigstens mit 33 Prozent die Sperrminorität erreichen, um die Politik zu blockieren, hat er ihnen versprochen, immer und immer wieder. Auch in Erfurt beschwört er diese Erzählung vom großen Umbruch am 1. September: Historiker könnten diesen Tag vielleicht bald schon als "politische Zäsur" bezeichnen, verheißt er da auf der Bühne. In eine Zeit danach und eine Zeit davor. Er meint wohl: Eine Zeit vor und nach Höcke. Tatsächlich aber dürfte Höcke dieser Tage vielleicht wirklich schlecht schlafen. Sinkt die Zustimmung für ihn unter 30 Prozent oder unter die Werte, die seine Kollegen in Sachsen einfahren, wäre das eine Demütigung – und machtpolitisch ein Problem. An einem Fluchtweg aber scheint er bereits zu arbeiten: Er und sein Landesverband werben seit Tagen unter AfD-Wählern für Wahlbeobachter, die das Auszählen der Stimmen begleiten, um Falschauszählung und Betrug im Sinne der "Kartellparteien", wie Höcke sie nennt, zu vermeiden. Nun kündigte er an: Er werde "Alarm" schlagen, wenn das Ergebnis seiner AfD zu tief sinke. Zu tief für seinen Geschmack, wohlgemerkt.