ru24.pro
World News in German
Август
2024

Anno 1553: Westbesuch im Kreml

0
Die Landung der Engländer an der Südküste des Weißen Meeres in einer künstlerischen Darstellung.

Richard Chancellor erging es ähnlich wie Christoph Kolumbus: Beide wollten sie nach Indien segeln und kamen ganz woanders an. Während Kolumbus es 1492 von Spanien westwärts versuchte und zufällig Amerika entdeckte, wurde Chancellor von der englischen Krone gut ein halbes Jahrhundert später mit einem nicht minder abenteuerlichen Unterfangen betraut: Er sollte Kurs auf China und Indien nehmen, indem er das Nordpolar­meer durchkreuzte. Von drei Schiffen, die am 20.  Mai 1553 mit Briefen des Königs ausliefen, um Handelskontakte mit jenen fernen Ländern herzustellen, wurden zwei im darauffolgenden Frühjahr von russischen Fischern vor der Küste der Kola-Halbinsel gefunden, wo sie vor Anker lagen: Von der Besatzung hatte niemand den Winter überlebt.

Zufällig nach Russland geraten

Durch einen Sturm von ihnen getrennt, war die „Edward Bonaventure“ von Kapitän Chancellor auch nicht viel weiter nach Osten vorgedrungen. Immerhin aber schaffte sie es noch im Sommer bis zum Weißen Meer und zur Insel Jagry. In der Nähe der heutigen Stadt Sewerodwinsk ging man am 24. August 1553 an Land – nicht in Indien, sondern im russischen Reich von Iwan dem Schrecklichen, das die Engländer bis dahin nicht kannten.

Es vergingen Monate, bis Chancellor nach Moskau weitergereist war und im Januar 1554 vom Zaren im Kreml empfangen wurde. Damit waren die Handelsbeziehungen zwischen Russland und England begründet. Chancellor hielt es jedoch auch für seine Pflicht, landeskundliches Wissen weiterzugeben und so zur Aufklärung seiner Landsleute beizutragen. Nachfolgend Auszüge aus den Aufzeichnungen über seine Reise. In russischer Übersetzung sind sie 1937 in dem Buch „Englische Reisende im Moskauer Staat des 16. Jahrhunderts“ erschienen.

Moskau „ohne jede Ordnung“

„Von Jaroslawl nach Moskau sind es 120 Meilen. Das Land dazwischen ist voller Dörfchen mit so vielen Menschen darin, dass es ein erstaunlicher Anblick ist. Überall wird Getreide angebaut, das die Bewohner in bemerkenswerten Mengen nach Moskau bringen. Jeden Morgen sind 700 oder 800 Schlitten mit Getreide anzutreffen und einige mit Fisch. Die einen sind nach Moskau unterwegs, die anderen in der Gegenrichtung. Und manche der Fuhrleute legen nicht weniger als 1000 Meilen zurück. Sie leben in den nördlichen Ländereien des Großfürsten, wo die grimmige Kälte kein Getreide wachsen lässt. Nach Moskau liefern sie Fisch, Felle und Tierhäute.

Moskau selbst ist riesig. Ich würde sagen, dass es größer ist als London und seine Vororte. Doch bebaut wurde die Stadt sehr plump und ohne jede Ordnung. Alle Häuser sind aus Holz, was sie bei Bränden besonderer Gefahr aussetzt. Doch Moskau hat auch einen prächtigen Palast (gemeint ist der Kreml – d.  Red.), dessen hohe Mauern aus Ziegeln sind. Man sagt, die Mauern seien 18 Fuß dick (5,5 Meter – d.  Red.), aber mir scheint, dass das nicht stimmen kann. Genau kann ich es allerdings nicht wissen, denn kein Ausländer darf sie besichtigen.

Eine Audienz beim Zaren

Um den Palast herum verläuft auf der einen Seite ein Graben, auf der anderen ein Fluss, der Moskwa heißt. Er fließt nach Tatarien und in ein Meer mit Namen Kaspisches Meer. Nördlicher befindet sich die Unterstadt, auch sie ist von einer Ziegelmauer umgeben, die bis an die Schlossmauer reicht. Der Zar residiert im Palast, in dem es neun herrliche Kirchen gibt und den Klerus dazu. Dort leben der Metropolit und die Bischöfe. […] 

Nun will ich davon berichten, wie ich dem Zaren (Iwan dem Schrecklichen – d. Red.) vorgestellt wurde. Bereits am zwölften Tag nach meiner Ankunft ließ mir der für Ausländer zuständige Sekretär ausrichten, der Zar wünsche, dass ich bei seiner Majestät mit einem Brief meines Königs erschiene. […] Ich betrat den Ratssaal, wo mich der Großfürst und seine Diener erwarteten. Während das Gefolge auf einer Erhöhung an der Wand saß, thronte der Großfürst noch viel höher auf einem vergoldeten Sitz, gehüllt in ein langes, vergoldetes Gewand, mit einer Zarenkrone auf dem Kopf und einem Stab aus Gold und Kristall in seiner rechten Hand. Mit der anderen Hand stützte er sich auf die Armlehne des Sessels. […]

Richard Chancellor bei Iwan dem Schrecklichen: So hat ein Künstler die Begegnung festgehalten.

Als ich mich verbeugt und meine Schriftstücke übergeben hatte, begrüßte er mich und erkundigte sich nach dem Befinden des Königs, meines Herrschers. Ich antwortete, dass sich der König bei meiner Abreise guter Gesundheit erfreute und ich der Überzeugung sei, dass sich daran nichts geändert habe. (Anm. d. Red.: Tatsächlich war der minderjährige englische König Eduard VI. bereits ein halbes Jahr vorher gestorben, als sich Chancellor noch auf hoher See befand.) Anschließend lud mich der Zar zum Mittagessen ein. […]

Zäh, aber schlecht ausgebildet

Aber ich will auch etwas über das Land und das Volk sowie die Besonderheiten und die Größe der Russen in militärischen Dingen mitteilen. […] Auf dem Schlachtfeld handeln sie ohne jede Formation. Sie rennen einfach schreiend umher und liefern ihren Feinden fast nie einen offenen Kampf, sondern schlagen unerwartet zu. Aber ich glaube, dass es unter der Sonne kein zweites Volk gibt, das dermaßen abgehärtet ist wie die Russen. Kälte kann ihnen nichts anhaben, obwohl die Krieger zwei Monate auf freiem Feld verbringen müssen, wenn draußen Fröste herrschen und der Schnee mehr als ein Yard hoch liegt. […]

Ich kenne kein Land in unserer Nähe, das sich solcher Leute rühmen könnte. Wenn sie nur exerzieren würden und man sie lehrte, wie man in der Formation kämpft und was moderne Kriegskunst ist, was könnte dann aus ihnen werden? Wenn sich im Land des russischen Herrschers Leute fänden, die ihm das eben Gesagte erklärten, dann könnten es nach meiner Überzeugung auch die besten und mächtigsten christlichen Herrscher nicht mit ihm aufnehmen, unter Berücksichtigung der Fülle seiner Macht, der Zähigkeit seines Volkes, der bescheidenen Ansprüche der Menschen wie der Pferde und der geringen Kosten, die Kriege für ihn verursachen, denn einen Sold zahlt er nur Ausländern, sonst niemandem. […]

„Halten sich für heiliger als uns“

Wenn die Russen um ihre Stärke wüssten, dann könnte sich niemand mit ihnen messen, und ihre Nachbarn hätten vor ihnen keine Ruhe. Aber ich denke, das ist nicht Gottes Wille. […]

Große Teile des Moskauer Kremls waren erst wenige Jahrzehnte alt, als Richard Chancellor dort weilte. (Foto: Tino Künzel)

Noch einige Worte zu ihrer Religion. Die Russen sehen sich in der griechischen Tradition, sind aber gleichzeitig so extrem abergläubisch, wie man es noch nie gehört hat. […] Für sie sind wir nur halbe Christen, weil wir ein gemischtes Verhältnis zum Alten Testament pflegen. Deshalb halten sie sich für heiliger als uns. Sie lernen nur ihre eigene Sprache und dulden keine andere in ihrem Land und ihrer Gesellschaft. […] Sie bekennen sich zum Alten wie zum Neuen Testament, doch der Aberglaube wird dadurch nicht weniger. Wenn die Priester predigen, dann mit so vielen Merkwürdigkeiten, dass das keiner versteht. Aber es hört auch keiner zu.“

Übersetzung aus dem Russischen: Tino Künzel

Запись Anno 1553: Westbesuch im Kreml впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.