Das Grün, bei dem alle Rot sehen
Nicht jede wissenschaftliche Entdeckung ist ein Segen für die Menschheit. Dass erst kürzlich 17 Teilnehmer eines 100-Kilometer-Fußmarsches durch Essen und Umgebung bei der Zielankunft über Hautverletzungen klagten und fünf davon im Krankenhaus behandelt werden mussten, hat genau genommen eine mindestens 150-jährige Vorgeschichte. Die Wanderer waren nämlich mit Heracleum mantegazzianum in Kontakt gekommen, besser bekannt als Riesen-Bärenklau.
Lieber Abstand halten
Diese Grünpflanze hat ihre natürliche Heimat im Kaukasus, wo sie besser auch geblieben wäre. Doch einmal von Botanikern aufgespürt, verbreitete sie sich noch im 19. Jahrhundert in Mittel- und Westeuropa. Dort schätzte man vor allem ihre dekorativen Eigenschaften: Den attraktiven Doldenblütler, auch Herkulesstaude genannt, zeichnen ein stattlicher Wuchs von teils mehr als drei Metern, ein dicker Stängel und weiße Blüten aus.
Dummerweise ist dieser Ästhet aber alles andere als harmlos. Vor allem sein Saft kann äußerst schmerzhafte und schwer heilende Wunden verursachen. Das liegt an einer Substanz namens Furocumarin, die den UV-Schutz der Haut außer Kraft setzt, sodass normale Sonneneinstrahlung zu starken Verbrennungserscheinungen führt. Zudem können selbst ohne direkte Berührung Beschwerden wie Atemnot und Brechreiz durch den Blütenstaub auftreten.
Und nicht genug der gesundheitlichen Gefahren: In biologischer Hinsicht ist das Gewächs eine wahre Zeitbombe. Es verdrängt die einheimische Vegetation und erobert immer neue Lebensräume, weil eine einzige Pflanze mehrere zehntausend Samen in sich trägt, die durch Wind, Wasser oder auch den Autoverkehr weiterverbreitet werden. Deshalb gewann der Riesen-Bärenklau bereits 2008 in Deutschland eine Abstimmung und sicherte sich damit den allerdings nicht unbedingt schmeichelhaften Titel „Giftpflanze des Jahres“.
Hoffnungen enttäuscht
Heute scheint eine der wenigen Regionen, in denen der grüne Antiheld keinen Schaden anrichtet, der Kaukasus zu sein. Auch in Russland kann man ansonsten ein Lied von dieser Landplage singen. Statt Heracleum mantegazzianum handelt es sich zwar um Heracleum sosnowskyi, eine andere Unterart des Bärenklaus, unter der Mensch und Natur jedoch genauso zu leiden haben. Die sowjetische Botanikerin Ida Mandenowa stieß 1944 im Kaukasus auf diese bis dahin unbekannte Pflanze und gab ihr den Namen ihres Lehrers Dmitri Sosnowski. Dass sich die Kunde davon nicht auf Fachkreise beschränkte, hatte damit zu tun, dass die Sowjetunion in der Nachkriegszeit nach einer anspruchslosen und klimaresistenten Futterpflanze suchte, die nahezu überall angebaut werden könnte. Die Wahl fiel auf Heracleum sosnowskyi, im gewöhnlichen Sprachgebrauch als Borschtschewik bezeichnet.
Doch bereits in den 1970er Jahren schwante allen, dass die unerwünschten Nebenwirkungen des vermeintlichen Heilsbringers seinen Nutzen übersteigen. Die Milch der damit gefütterten Kühe hatte einen bitteren Beigeschmack, auch von Mutationen bei neugeborenen Kälbern wurde berichtet. Und schon damals sorgte die zunächst begrüßte Reproduktionsfähigkeit der Pflanze für viel Wildwuchs, weshalb mit ihrer gezielten Vernichtung begonnen wurde. Doch das Ende der Sowjetunion und der Verfall der Kolchosen öffneten einer unkontrollierten Ausbreitung Tür und Tor.
Schwierige Bekämpfung
Seit 2015 gilt der Borschtschewik in Russland offiziell als Unkraut. Immer wieder wird nach einer nationalen Strategie bei seiner Bekämpfung gerufen. In diesem Jahr hat die Duma in erster Lesung eine Gesetzesvorlage angenommen, die Garten- und Hausbesitzer verpflichten würde, den Störenfried auf ihren Grundstücken zu beseitigen, wenn er dort wuchert.
In Deutschland ist das bereits geltendes Recht. Die exponentielle Ausbreitung des Riesen-Bärenklaus seit den 1980er Jahren bringen Umweltschützer mit dem Einsatz von Stickstoffdünger in Verbindung. Und so klingen auch dieser Tage die Schlagzeilen wieder alarmierend. „NRW-Landesamt warnt Millionen Spaziergänger vor gefährlichem Gift“, titelt Ruhr24.de. „Experten in Thüringen warnen: Riesen-Bärenklau breitet sich immer weiter aus“, schreibt die Bild-Zeitung. Das Umweltamt der sächsischen Großstadt Chemnitz bittet die Bürger Jahr für Jahr um Mithilfe, um das Problem einzudämmen. Doch die „Welt“ schrieb bereits 2007: „Den Riesen-Bärenklau wieder loszuwerden, erweist sich seit Jahren als Sisyphos-Arbeit“.
Tino Künzel
Запись Das Grün, bei dem alle Rot sehen впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.