„Das ist wie eine Parallelwelt“
Im November 2007 hatte sich Marcus Urban als erster deutscher Fußballprofi geoutet. Der mehrmalige DDR-Juniorennationalspieler wollte sich nicht länger verleugnen – und beendete seine Karriere bei RW Erfurt bereits 1993. Seit seinem Coming-out kämpft der heute 52-Jährige gegen Homophobie im Sport, ist als Redner und systemischer Coach tätig. Für den 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homosexuellenfeindlichkeit (angelehnt an den früheren § 175 StGB, der Homosexualität unter Strafe stellte), hat Marcus Urban mit der Kampagne „Sports Free“ nun ein Angebot für ein gemeinsames Coming-out initiiert, von dem er sich insbesondere ein Signal homosexueller Fußballer wünscht. Die TSG Hoffenheim unterstützt das Projekt wie auch das Anliegen inhaltlich und finanziell.
Herr Urban, warum ist es eigentlich so wichtig, dass schwule Fußballer ihre Sexualität erklären?
„Weil es einfach um Normalität geht. Denn wenn etwas Natürliches wie Liebe und Partnerschaft verheimlicht werden muss, bleibt der Eindruck, es sei anrüchig. Es kostet unglaublich viel Kraft, Liebe und Partnerschaft zu verheimlichen. Das ist ungemein belastend.“
Woher wissen Sie von homosexuellen Fußballern?
„Weder mein eigenes Coming-out noch jenes von Nationalspieler Thomas Hitzlsperger vor zehn Jahren hat dafür gesorgt, dass es in Deutschland weitere gab. Ich habe dann mein Vorhaben, mit einem gemeinsamen Coming-out etwas zu bewegen, in meinem Netzwerk gestreut. Die Rückmeldungen kamen prompt, inzwischen ist eine echte Dynamik entstanden. Ich weiß von mehr als 100 Spielern über die vergangenen Jahrzehnte. Die Spieler stehen zum Teil in Kontakt. Es sind Weltstars dabei, Nationalspieler ebenso wie Profis aus der 3. Liga, über viele Länder und Kontinente.“
Wie sehr bedrückt es Sie, dass nur so wenige Fußballer sich offen bekennen?
„Wenn ich die Bundesliga schaue oder die Premier League und die Spieler sehe, die alles geben für ihr Team, ein Tor erzielen und alle jubeln – aber zugleich keiner weiß, wer sie wirklich sind, dann finde ich das unglaublich schade. Aber ich lebe nicht das Leben der Anderen. Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen, wer wer ist, auch wenn es manchmal schwerfällt. Denn ich weiß, dass es das gesamte Bild der Bundesliga verändern würde. Aber die Spieler müssen selbst davon überzeugt sein, sich zu zeigen – und solange die Spieler das nicht können, übernehme ich es, für sie zu sprechen. Denn das Leben im Verborgenen ist schlimm. Psychologische Behandlungen, Suizidgedanken, Depressionen, heimliche Treffen, Scheinfreundinnen und Ehefrauen. Das ist schon heftig. Ich kenne Fälle aus Sportarten, in denen Spieler frühzeitig verstorben sind, etwa an HIV – und keiner wusste, wer sie wirklich waren. Um es mal krass zu formulieren: Jeder muss irgendwann sterben, dann aber zumindest nicht verleugnet.“
Wie wird das Coming-out im Detail aussehen?
„Das bleibt den Sportlerinnen und Sportlern überlassen. Es ist nur ein erstes Angebot. Wir erhalten zumindest immer mehr Rückmeldungen, dass nicht nur Sportlerinnen und Sportler sich beteiligen wollen, sondern auch Mitarbeitende, Schiedsrichter, Trainer. Aber jeder macht seine eigene Planung, im eigenen Tempo. Vielleicht nicht im Rahmen der Aktion, oder eben nicht am 17. Mai, sondern später. Wir haben das flexibel gestaltet. Es wird eine digitale Bilderwand geben. Wie bei ActOut – dabei haben sich 185 Schauspielerinnen und Schauspieler geoutet. Auf dieser Plattform kann man ein Video einstellen, einen Text oder erst einmal einen Avatar. Es gibt viele Möglichkeiten, denn die Menschen sind ebenso unterschiedlich. Zudem drehen wir einen Film, eine Art ‚Making-of‘.“
Welche Rolle können in diesem Zusammenhang die Klubs spielen?
„Die Spieler schauen natürlich darauf, ob ihr Verein sich engagiert. Denn es gibt keinen Klub ohne queere Spieler, gab es auch noch nie. Sie haben sich über die ganzen Jahrzehnte immer versteckt. Diese Phase wollen wir beenden. Es ist besser für alle, wenn ich von Leuten umgeben bin, die frei und selbstbestimmt sind. Daher spielen die Klubs eine entscheidende Rolle, auch im Umgang mit den Teamkollegen. Denn die Kabine ist ein schwieriger Ort für sie. Ich glaube, da müssen von Vereinsseite auch immer wieder und immer weiter Gespräche geführt werden.“
Was würde ein zeitgleiches Coming-out mehrerer Fußballspieler bewirken können?
„Wenn sich alle gleichzeitig zeigen würden, würde es das komplette Bild verändern. Kinder und Jugendliche weltweit würden sehen, ich kann alles sein, was ich bin. Es ist egal, woher ich komme, wie ich aussehe, welches Handicap ich habe, wen ich liebe. Der Sport hat eine sehr wichtige Funktion in der Gesellschaft. Wenn man im Profifußball etwas verändert, verändert man die Gesellschaft. Und wenn wir es global machen, dann ändern wir tatsächlich ein wenig die Welt. Das ist sehr inspirierend. So viele Chancen bekommt man dazu nicht im Leben.“
Befürchten Sie denn Anfeindungen und Ablehnung für schwule Fußballer nach ihrem Gruppen-Outing?
„Natürlich wird es auch Hate Speech geben. Diskriminierung ist Teil der Gesellschaft. Fragen Sie mal ältere oder Menschen mit Handicap, die das jeden Tag erleben. Da bildet der Fußball ganz sicher keine Ausnahme. Aber was mich stört: Es hat in den vergangenen Jahren immer nur ein defizitorientiertes Denken gegeben. Die Frage, was alles Negatives passieren kann, die Angst, im Stich gelassen zu werden. Aber niemand hat sich Gedanken über die Potenziale gemacht. Meiner Meinung nach werden die, die den Schritt wagen, etwa in Sachen Vermarktung eher ein größeres Management brauchen, um die Termine zu bewältigen, die anfallen. Denn die Spielerinnen und Spieler haben dann erstmals ein Alleinstellungsmerkmal. Ein besseres Testimonial für Authentizität gibt es wohl kaum. Alle wissen, du hast Charakter. Jemand, der das durchzieht, muss ein besonderer Typ sein.“
Wie wichtig wäre es, wenn sich eine wirklich prominente Persönlichkeit des Fußballs, womöglich gar ein Weltstar, am 17. Mai outen würde?
„Jedes Leben ist gleich wertvoll, ob jetzt jemand in der 13. oder in der ersten Liga spielt. Und jeder Einzelne wird Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld, im jeweiligen Klub, in der Stadt damit bewegen und berühren. Aber der Impact ist natürlich unterschiedlich, wenn das jemand aus der Regionalliga macht oder jemand aus einer Nationalmannschaft. Das Interessante: Untereinander kennen sich die Akteure, stehen miteinander auch in Verbindung, der Regionalliga-Kicker mit dem Champions League-Spieler. Das ist eine Parallelwelt.“
Gerade der Männer-Fußball ist geprägt von der fehlenden Offenheit. Warum scheint es für homosexuelle Frauen leichter, sich zu outen?
„Weil es im Frauenfußball einfach als nicht wichtig gesehen wird, sie gehen damit gelassener um. Es gibt natürlich auch weniger Öffentlichkeit, weniger Fans, weniger mediale Aufmerksamkeit. Es sind schlicht nicht so viele negative Konflikte da wie bei den Männern. Das macht es vielleicht leichter. Es gibt zum Beispiel offen lesbische Pärchen beim FC Bayern München und beim VfL Wolfsburg. Ich kenne auch schwule Männerpaare in der Bundesliga, die jedoch das Gefühl haben, versteckt leben zu müssen. Ich denke, dass Männer auch das können sollten, was im Frauenfußball möglich ist.“
Verleugnete Homosexualität ist aber beileibe nicht nur ein Thema des Fußballs.
„Wir haben in der Basketball-Profiliga NBA über die gesamte Zeitspanne gerade einmal ein Dutzend bekannter Fälle, ebenso beim American Football. Es gibt keine Sportart, die richtig gut darin ist, männliche Homosexualität zu demonstrieren. Der Fußball liegt da sogar im Mittelfeld mit seinen bisher 25 Coming-Outs. Auf 150 Jahre gerechnet, wohlgemerkt. 25 Fußballer bei Millionen von Spielern. Da ist allen klar, dass das schon rein statistisch nicht stimmen kann. Die Fußballer werden am 17. Mai erkennen, dass sie ein kleines Mosaiksteinchen in einem viel größeren Spiel sind. Ein Spiel dauert 90 Minuten, ein ganzes Leben 90 Jahre. Es ist ganz sicher nicht effektiv, sich für diese 90 Minuten, auch wenn sie wichtig sind, ein ganzes Leben zu verleugnen und zu verstecken.“