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Май
2024

Pressestimmen: "Der ESC will das Politische fernhalten – das ist nicht gelungen. Und wird auch nicht mehr gelingen"

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Der Eurovision Song Contest 2024 war so politisch aufgeladen wie nie und überschattet von Protesten und Buhrufen gegen Israel. Die deutschen Zeitungen kritisieren die EBU – aber sehen auch Hoffnung. Die Presseschau zum ESC.

Überschattet von Protesten gegen Israel hat der Schweizer Starter Nemo den Eurovision Song Contest (ESC) gewonnen. Nemo setzte sich in der Nacht zu Sonntag mit 591 Punkten gegen den in den Wettbüros favorisierten Kroaten Baby Lasagna durch, der insgesamt 547 Punkte holte. Deutschland wurde Zwölfter. Am Rande der Veranstaltung gab es Proteste gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen, die israelische Sängerin Eden Golan wurde ausgebuht.

Nemo ist der erste nichtbinäre Gewinner des zum 68. Mal ausgetragenen ESC und fühlt sich eigenen Worten zufolge weder als Mann noch als Frau. Der in Berlin lebende 24-jährige Schweizer Starter erzählt mit "The Code" auch eine persönliche Geschichte.Finale-ESC Recap 0845

Demos und Buhrufe gegen Israel beim ESC – so kommentiert die deutsche Presse

Wegen der Proteste gegen die Teilnahme Israels am ESC geriet die Musik trotz zahlreicher starker Beiträge fast in den Hintergrund. Nachdem in den Tagen während des Wettbewerbs in Malmö wiederholt ein Ausschluss Israels vom ESC gefordert worden war, schlossen sich auch am Samstag wieder mehrere tausend Menschen einer antiisraelischen Demonstration an.

Vor der Malmö Arena riefen die Demonstranten den Zuschauern beim Reingehen in die Halle "Shame on you" – "schämt euch" – entgegen, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP am Samstag berichtete. Die zu den Protestierenden zählende schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg wurde von der Polizei abgeführt.

Die aufgeheizte Stimmung schlug sich auch im Wettbewerb nieder: Die Israelin Golan, die in Malmö unter verschärftem Polizeischutz stand, wurde ausgepfiffen und ausgebuht. Einige Zuschauer verließen aus Protest während ihres Auftritts die Arena.

So kommentieren die deutschen Zeitungen diesen politisch aufgeladenen ESC: 

"Schwäbische Zeitung": "Vom Publikum wurde die Sängerin Eden Golan ausgebuht, von Mitbewerbern geschnitten. Draußen, auf den Straßen in Malmö, feierten Demonstranten die Hamas. Manche riefen, die Juden mögen 'zurück nach Polen' gehen. In einer Szene, die sich gern als divers und weltoffen gibt, ist das ein verstörendes Verhalten. Es erinnert an die anti-israelischen Proteste an Universitäten in Deutschland und anderen Ländern. Auch dort geht es um Boykott, nicht Dialog. Wut und Pfiffe in Malmö richteten sich gegen eine junge Frau von gerade einmal 20 Jahren. Die Veranstalter des Song Contests sind daran gescheitert, Eden Golan ein sicheres Umfeld zu bieten. Dass die Stimmung jenseits von Malmö eine andere ist, zeigten indes die Publikumsvotings: Bei der weltweiten Abstimmung der Zuschauer landete Israel auf dem zweiten Platz, bei den deutschen Zuschauern sogar ganz vorn. Das zeigt: Wer Boykotte fordert und Schwarz-Weiß-Malerei betreibt, spricht nicht für die Mehrheit."

"Frankfurter Neue Presse": "Hat die Europäische Broadcasting Union (EBU), die Angriffe mit großem Aufwand abwehrte und ihre Regeln gegen viel Kritik durchsetzte, eine Märchenwelt des toleranten Europa verteidigt, die gar nicht mehr existiert? In manchen Momenten schien es so. Doch es lohnt sich, den Grundgedanken des ESC gegen die erstarkenden Feinde der offenen Gesellschaft zu verteidigen. Denn er kann im Idealfall gerade in schwieriger weltpolitischer Lage ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln, das verlorenzugehen droht."

"Allgemeine Zeitung": "Der ESC, wie wir ihn in den chaotischen Tagen von Malmö erlebt haben, war nicht das friedlich-fröhliche Musikfest, das es so gerne wäre, das politische Weltgeschehen hat die Veranstaltung überschattet. Vom Motto 'United by Music' war nichts zu spüren, stattdessen beteiligten sich auch einige Teilnehmer und Punkte-Präsentatoren an Hetze und Hass. (...) Ein unwürdiges, scharf zu verurteilendes Schauspiel – scheinheilig von all jenen, die dies unterstützen, gleichzeitig aber in der ESC-Blase nach Liebe und Frieden rufen. (...) Der ESC will das Politische fernhalten – das ist nicht gelungen. Und wird auch nicht mehr gelingen."

"Frankenpost": "Dass mit diesem ESC etwas schieflief, müssen nicht zuletzt die Hetzer auf der Straße erkennen. Denn was wäre ein Israel in den Händen der Hamas? Nichts bliebe – um nur ein Beispiel zu nennen – übrig von der Demokratie und all den schönen Freiheiten, die Millionen Menschen etwa in der Metropole Tel Aviv genießen. Dem ESC 2024 fehlte Leichtigkeit, Liberalität, Weltoffenheit, das Verbindende, der Respekt, die klare Sicht. 'United by music' war wenig bis nichts. Bis am Ende die Schweiz gewann. Jenes Land, das sich gerne neutral verhält. Doch Interpret Nemo positionierte sich: 'Ich hoffe, dass dieser Wettbewerb seinem Versprechen gerecht wird und für Frieden und Würde für jeden in dieser Welt sorgt.' Und wie zum Trotz wurde Israel Fünfter. Das muss sich bei all den Protestlern, die wohl eine Minderheit darstellen, wie ein Sieg anfühlen."ESC Nemo macht Pokal kaputt 0955

"Rheinpfalz": "Internationale Musik- wie auch Sportveranstaltungen finden nicht im luftleeren Raum statt. Wer als Verantwortlicher oder Verantwortliche erklärt, ein solches Ereignis sei unpolitisch, wer versucht, die – derzeit leider ziemlich verstörende – weltpolitische Lage auszublenden, der stiehlt sich aus der Verantwortung und verschlimmert die Konflikte womöglich noch. Beim ESC in Malmö ist genau das passiert."

"Frankfurter Rundschau": "Der Triumph des nonbinären Nemo lässt sich als Nachweis der tiefen Grundtoleranz einer breiten europäischen Mehrheit gegenüber queeren Lebensentwürfen. Auch der Rausschmiss des Niederländers Joost Klein wegen Fehlverhaltens gegenüber einer Kamerafrau zeigt: Die Toleranzschwelle in Fragen toxischer Männlichkeit ist gesunken. Gut so. Im Mittelpunkt der Chaostage von Malmö aber stand eine Andere. Es ist unfassbar, dass eine jüdische Sängerin wie Eden Golan sich Pfiffe und Buhrufe in der ESC-Arena anhören muss, bloß weil sie Israelin ist. Es ist unfassbar, dass ein Mob inklusive der Klimaaktivistin Greta Thunberg Terroristen verherrlichen und seine historische Ahnungslosigkeit zur Schau stellen darf. Es ist unfassbar, dass ESC-Kollegen Eden Golan hinter den Kulissen mieden, mobbten und wie eine Aussätzige behandelten, bloß um der eigenen Social-Media-Bubble zu gefallen. Jeder Einzelne, der Eden Golan beim Song Contest ausgebuht oder theatralisch lächerlich gemacht hat, möge sich schämen."

"Lausitzer Rundschau": "Die politische Unschuld des ehemaligen Grand Prix ist schon längst passé. Von dem einstigen Liebeslieder-Wettbewerb ist nicht mehr viel übrig. Seit den 1990er-Jahren packten immer mehr Teilnehmer politische Botschaften in ihre Songs. Und auch das Kapern des Wettbewerbs durch die queere Bewegung kann man durchaus als Politisierung verstehen. Es liegt in der Natur internationaler Wettbewerbe, dass sie wegen der weltweiten Aufmerksamkeit genutzt werden, um sie für politische Botschaften zu gebrauchen, Olympische Spiele genauso wie Fußball-Weltmeisterschaften. Im aktuellen Fall des ESC für die Kritik an Israels Vorgehen im Gaza-Krieg. Aber auch die Zuschauer nutzen die Stimmabgabe für politische Statements. Selbst wenn es am Ende nicht siegte: In diesem Jahr erhielt kein anderes Land vom Fernsehpublikum häufiger die Höchstpunktzahl als Israel."