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Май
2024

Arbeitszeit: Die Deutschen sind keine faulen Säcke

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Stern 

1,3 Milliarden Überstunden haben die Deutschen 2023 geleistet. 775 Millionen davon unbezahlt. Die Deutschen seien faul, behauptete die amerikanische Nachrichtenagentur Bloomberg kürzlich. Politiker forderten zu Mehrarbeit auf. Sie liegen falsch. Wir arbeiten genug. 

Die Deutschen sind faule Säcke, sagt, ein bisschen feiner ausgedrückt, der Bloomberg-Kolumnist Chris Bryant (Bezahlinhalt). Er stößt ins gleiche Horn wie deutsche Politiker, die sich in den letzten Tagen zu Wort gemeldet haben: Finanzminister Christian Lindner (FDP) will "Lust machen auf die Überstunde". Das sagte er bei "Caren Miosga" und mahnte eine "Mentalitätsreform" an. "Wir brauchen eine Steigerung der Arbeitsstunden", zitiert "Bild" Rainer Dulger, Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände. Christian Sewing, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, stimmt ein. "Die Haltung zur Arbeit, der unbedingte Wille zu arbeiten", müsse sich ändern.

So, so. Die Deutschen seien zu häufig krank, schreibt Bryant. Deutschland sei "buchstäblich der kranke Mann Europas". Nun hat die Bundesagentur die neuesten Zahlen herausgegeben: 1,3 Milliarden Überstunden haben die Deutschen 2023 geleistet. 775 Millionen davon unbezahlt. Rein rechnerisch arbeitet jeder Beschäftigte in Deutschland im Schnitt über 30 Überstunden, fast 18,5 davon unbezahlt. Von Faulheit kann also keine Rede sein. Andere Studien kommen sogar zu höheren Werten. 

Stress macht krank und kostet die Wirtschaft viel Geld

55 Milliarden Stunden buckelten die abhängig Beschäftigten im Jahr 2023. So viel wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Zu diesem Ergebnis kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Das liegt daran, dass viele Menschen Arbeit haben. Die Kehrseite: Der Stress macht sie krank, kostet die Volkswirtschaft viel Geld. Bis zu 42 Milliarden Euro verliert die Wirtschaft, weil Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen krank werden durch Stress, Burn-out, Depressionen und weil sie mit ihren Ängsten nicht mehr klarkommen. Auf 100 Versicherte kommen 301 Fehltage. Das ist eine Steigerung von fast 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Eindrucksvoll nachzulesen im Psychreport der Deutschen Angestellten Krankenkasse.

FDP Überstunden 11.08

Die Leistungsgesellschaft macht krank. Und das kostet Geld. Überstunden sind also kontraproduktiv. Dass die Menschen faul sind, ist ein modernes Märchen. Die meisten können sich ein Leben ohne Arbeit gar nicht vorstellen. Dass Arbeitslosigkeit unglücklich macht, hat die Sozialpsychologin Marie Jahoda schon vor fast 100 Jahren herausgefunden. Sie beobachtete die Arbeitslosen im österreichischen Marienthal. Dort war die einzige Fabrik geschlossen worden. Die Langeweile ließ die Menschen "apathisch" und "misstrauisch" werden. Ihre Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" gehört noch heute zu den Klassikern der Sozialforschung. 

Jeder Vierte würde auch mit über 70 noch gerne arbeiten

Das Schreckgespenst des Drückebergers, das Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) überall in der Arbeitswelt umgehen sah und das wieder aufersteht, ist in Wirklichkeit eine seltene Erscheinung. Ohne Arbeit zu sein, gilt für viele Menschen als schwerer Schicksalsschlag, wie auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung herausgefunden hat. Sogar die Bereitschaft, im Alter zu arbeiten, steigt. Ja, ein Großteil der Menschen will mit 63 in Rente. Dafür würden sie laut einer Umfrage des Demographie-Netzwerkes sogar Abschläge in Kauf nehmen. Aber: Unter den arbeitenden Menschen, die über 65 Jahre alt sind, ist fast die Hälfte (44,2 Prozent) bereit, bis 67 und länger zu arbeiten. Jeder Vierte würde sich freuen, sogar mit über 70 noch arbeiten zu können. Besonders groß ist die Motivation bei Führungskräften. 

Den 90. Geburtstag meiner Oma habe ich verpasst – wegen Arbeit

Die Menschen arbeiten also gerne, aber sie haben keine Lust mehr, sich ausbeuten zu lassen. Sie wollen eine Vier-Tage-Woche, wie sie die Lokführer-Gewerkschaft GdL bei der Bahn kürzlich erstritten hat. Das ist richtig. Und es ist gesund. Wozu mehr Arbeit, wozu mehr Geld? Um den Drittwagen anzuschaffen, mehr Klamotten in die vollen Kleiderschränke zu stopfen? Ist es nicht sinnvoller, mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen? Mit der Familie. Ich gehöre nicht zur angeblich faulen Generation Z, sondern zu den Boomern. Dürfte ich die Überstunden, die ich im Laufe meines Lebens geleistet habe, mit einem Lebensarbeitszeitkonto abbummeln, hätte ich vermutlich schon vor 15 Jahren in Rente gehen können. Das ist natürlich übertrieben, aber nur ein bisschen. Den 90. Geburtstag meiner Großmutter habe ich verpasst, weil ein Artikel fertig werden musste. Das bereue ich noch heute, und weiß nicht mal mehr, um welches Thema es damals ging. Oma hatte sogar Verständnis. Arbeit geht vor. Und auch ihren 91. verpasste ich. Wegen des Jobs. Es war ihr letzter Geburtstag.  

STERN C Überstunden Bezahlung 18:47

Das Land braucht keine Überstunden, sondern mehr Menschen. Viele Frauen arbeiten in Teilzeit, obwohl sie gerne in Vollzeit arbeiten würden. Aber es fehlen Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Der Schrei nach einer längeren Lebensarbeitzeit ist laut und sinnlos. Die Wahrheit ist: Viele Arbeitgeber wollen keine alten Arbeitnehmer. Sie werden aus den Unternehmen gedrängt mit teuren Altersteilzeitverträgen. Oder, wenn sie arbeitslos sind, gar nicht erst eingestellt. Trotzdem gilt auch hier: Die Zahl der älteren Beschäftigten ist von 2020 bis 2023 um 50 Prozent gestiegen. Von einer Faulheit der Boomer kann also keine Rede sein. Und wir brauchen Zuwanderung, weil Migranten unsere Rettung sind: "Der Arbeitskräftemangel ist das größte wirtschaftliche Problem, eine starke Zuwanderung wirtschaftlich überlebensnotwendig für Deutschland", schreibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in der "Zeit" und präsentiert eine Lösung. Wir bräuchten nicht nur qualifizierte Zuwanderer, sondern auch unqualifizierte, so groß sei die Not, mahnt der Wirtschaftswissenschaftler. 

Wir machen es den Zuwanderern zu schwer

Doch obwohl wir Zuwanderung brauchen, lässt die Integrationspolitik in diesem Lande zu wünschen übrig. Menschen mit Abschlüssen aus Nicht-EU-Ländern dürfen zwar arbeiten, aber die Anerkennung von Abschlüssen ist noch immer zu kompliziert. Menschen, die sich bestens integriert haben, werden noch immer abgeschoben, aus formalen, schwer nachvollziehbaren Gründen – wie die damals 15-jährige Argjentia, die mit ihren Eltern 2020 abgeschoben wurde. Nachdem die Familie 20 Jahre in Deutschland gelebt hatte. Argjentia wurde in Deutschland geboren, ging in die 9. Klasse. Ihre Mutter arbeitete als festangestellte Reinigungskraft. Auch solche Menschen braucht das Land. 

Junge Männer, die in Flüchtlingsheimen aufeinander hocken und sich langweilen, weil sie nichts zu tun haben, werden aggressiv, und, wenn es ganz schlecht läuft, kriminell. Auch so ein Thema, das in den letzten Tagen in den Medien heiß diskutiert wurde. Kriminalität ist eine soziale Frage und keine der Nationalität. Menschen, die Arbeit und eine Perspektive haben, die eingegliedert sind in die Gesellschaft, neigen weniger dazu, kriminell zu werden. In der Kriminologie ist das eine Binse, so oft ist das untersucht worden. Aber das ist ein anderes Thema.