Abschied einer Legende
Es gibt gute und schlechte Entscheidungen, die man im Laufe seines Lebens trifft. Und prägende, die alles bis dahin Gewesene für immer verändern. Eine solche traf Kai Herdling, ohne es damals ahnen zu können, im Sommer 2002. Gerhard Schröder war Bundeskanzler, der Euro wurde offizielles Zahlungsmittel und auch der Fußball war noch ein anderer: Oliver Kahn hatte Deutschland als Ein-Mann-Armee ins WM-Finale geführt, Martin Max die Torjägerkanone gewonnen, die Klubs 1. FC Kaiserslautern, VfB Stuttgart und TSV 1860 München qualifizierten sich für den UI-Cup – und die TSG Hoffenheim spielte in der Regionalliga. In diesen fast vergessenen Zeiten fiel ein talentierter Teenager den Scouts des aufstrebenden Klubs auf. Und auch für die Späher war trotz ihres guten Auges nicht zu erkennen, welchen Rohdiamanten sie in Kirchheim entdeckt hatten. Kai Herdling zögerte nicht lange, nahm das Angebot an und begann eine Laufbahn, die in der heutigen Zeit wie ein Märchen erscheint. Spielen für die TSG-Reserve in der Verbandsliga folgte der sensationelle Triumph über Bayer 04 Leverkusen im DFB-Pokal-Achtelfinale 2003 samt eigenem Torerfolg, mit der zweiten Mannschaft wiederum der Titel des Torschützenkönigs in der Oberliga samt Aufstieg in die Regionalliga – und schließlich die Bundesliga, wo er als 29-Jähriger sein Startelf-Debüt feierte. Manchmal ist die Realität noch schöner als jedes Märchen.
22 seiner 39 Lebensjahre verbrachte Kai Herdling, mit kurzen Unterbrechungen, bei der TSG. Eine prägende Zeit, die im Sommer endet. Denn der Ex-Profi hat, wie Teenager heutzutage sagen würden, die TSG „durchgespielt“. Amateur, Profi, Legende, Akademie-Trainer, Interims-Coach, Chef der U23 – es gibt kaum eine Position, die er nicht bekleidet hat. „Ich war mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens bei der TSG. Ich bin hier Profi geworden, habe in der Zeit geheiratet, bin Vater geworden – dieser Verein ist mein Zuhause, gehört zu mir und wird immer ein Teil von mir sein“, sagt Herdling merklich emotional. Und fügt dann an, warum diese besondere Liaison nun enden wird: „Es gibt Punkte im Leben, an denen man weiterziehen muss, um sich weiterzuentwickeln. An solch einem Punkt bin ich angekommen. Ich spüre, dass es Zeit für eine Veränderung ist.“
Kai Herdling war, trotz seiner tiefen Heimatverbundenheit, schon immer ein Spieler, der weit über den Tellerrand hinausgeschaut hat. Vor zehn Jahren wagte er ein spezielles Abenteuer und schloss sich Philadelphia Union an, er gründete mit Herdling Consulting sein eigenes Unternehmen und begann noch als aktiver Profi seine Trainerlaufbahn – damals als Assistent von U15-Coach Frank Fröhling. Der Beginn einer besonderen Leidenschaft, die längst zum beruflichen Lebensmittelpunkt geworden ist. Nachdem er sein Amt als Trainer der U23 vor zwei Jahren niederlegte, um sich erfolgreich der UEFA Pro Lizenz, der höchsten Trainerausbildung in Europa, zu widmen, nahm er sich Zeit zur persönlichen und fachlichen Weiterbildung. Herdling besuchte mehrere Spitzentrainer, hospitierte beim Hamburger SV und suchte auch nach fußballfernen Herausforderungen.
„Ich habe mir viele Dinge beigebracht, auch ganz banale, wie etwa selbst eine Website zu erstellen. Ich bin davon überzeugt, dass man immer neue Reize setzen muss, um voranzukommen. Es war ein sehr wertvolles Jahr, nun möchte ich meine Erfahrungen nutzen – und endlich wieder dort arbeiten, wo ich mich am wohlsten fühle: auf dem Trainingsplatz.“
Zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen sind auch deshalb nicht geplant, da Herdling bereits seit mehr als zehn Jahren ein aufmerksamer Student seines Fachs war. Als Spieler lernte er unter anderem von internationalen Größen wie Ralf Rangnick und Hansi Flick, später arbeitete er eng mit Julian Nagelsmann zusammen. Den Blick eines Trainers auf den Fußball hatte er sich schon frühzeitig angeeignet. Auch Alexander Rosen traut Herdling eine erfolgreiche zweite Laufbahn zu. „Kai ist ein besonderer Charakter für die TSG. Ich habe ihn als Spieler erlebt und geschätzt und mit ihm im Endspurt der Saison 2019/20 im Interimstrainerstab der Profis zusammengearbeitet. Ich bin fest davon überzeugt, dass er auch als Trainer seinen Weg gehen wird. Es wird für Kai sicher eine spannende Herausforderung, die nächsten Schritte seiner Trainerkarriere nach so vielen Jahren bei der TSG nun bei einem anderen Klub zu starten, aber unabhängig davon sind die Türen für ihn bei seiner TSG Hoffenheim immer offen“, sagt der Sport-Geschäftsführer.
Herdling blickt mit viel Zuversicht auf seine berufliche Zukunft und auch mit einer kleinen Portion Stolz auf die Erkenntnis, dass er schon deutlich länger bei der TSG war, als andere überhaupt im bezahlten Fußball verbleiben. Ein Neuanfang, ein Schritt raus aus der persönlichen Wohlfühloase, ist die logische Konsequenz, wie Herdling betont: „Ich bin sehr dankbar, so viele Jahre hier mein sportliches und berufliches Zuhause gehabt haben zu dürfen. Ich werde Dietmar Hopp, aber auch Alexander Rosen und vielen weiteren Weggefährten immer verbunden bleiben. Die TSG wird immer in meinem Herzen sein, aber nun ist der richtige Zeitpunkt gekommen, einen neuen Weg einzuschlagen und meine Karriere als Cheftrainer zu starten.“
Erste Gespräche hat es bereits gegeben. Bei welchem Klub Kai Herdling erstmals nicht mit dem TSG-Logo auf der Brust am Spielfeldrand stehen wird, ist aber noch nicht entschieden. Der im Juni 40 Jahre alt werdende Vater zweier Töchter hat für sich aber bereits entschieden, dass er bereit ist, neben der TSG auch den Kraichgau zu verlassen: „Der Lebensmittelpunkt meiner Familie wird Heidelberg bleiben. Das ist für alle in Ordnung und wir werden es bestmöglich hinbekommen.“ 22 Jahre nach seinem Bekenntnis für die TSG ist auch der Abschied von seinem Herzensklub ein Einschnitt im Leben des Kai Herdling. Doch wie schon im Jahr 2002 ist er von seiner Entscheidung überzeugt. Und wer den früheren Stürmer kennt, der weiß, dass Kai Herdling seine Schritte gut überlegt – und dass ihm einiges zuzutrauen ist.