Ralf Rangnick: Vom "Taktik-Professor" zum Retter des deutschen Fußballs
Nach zahlreichen Absagen anderer Kandidaten rückt Ralf Rangnick wieder in den Fokus des FC Bayern. Dort könnte er den kompletten Verein umkrempeln – eine Aufgabe, mit der er reichhaltige Erfahrung hat. Die aber auch psychischen Tribut forderte. Am 18. Dezember 1998 änderte eine grüne Taktiktafel den Lauf des deutschen Fußballs. Ein trotz seiner 40 Jahre jungenhaft wirkender Mann mit randloser Brille erklärte der Republik in der ZDF-Sendung "Sportstudio" den Fußball des kommenden Jahrtausends. Er sagte Sätze wie: "Die Viererkette ist für uns nur ein Mittel zum Zweck" und benutzte Begriffe wie "Grundordnung", "vorschieben", "Tiefenstaffelung" oder "einrückende Außenverteidiger". Sein Name: Ralf Rangnick . Seine damalige Position: Trainer des SSV Ulm. Mit dem Außenseiter schickte sich der gebürtige Schwabe damals an, in die Bundesliga aufzusteigen. Nun, ein gutes Vierteljahrhundert später, steht der damals ein wenig kauzig wirkende Taktikexperte vor einem Wechsel zum großen FC Bayern München ( Lesen Sie hier alle Hintergründe zu den Verhandlungen zwischen Bayern und Rangnick. ). Auf dem Weg dorthin hat der heute 65-jährige Rangnick den deutschen Fußball revolutioniert. Und ist einer der meist bewunderten wie gehassten Personen im deutschen Fußball. Aber wie kam es überhaupt dazu? Sein Spitzname lautete "Taktik-Professor" Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick zurück zum eingangs erwähnten "Sportstudio"-Auftritt. In einer Zeit, als Lothar Matthäus mit 37 Jahren gerade sein Comeback in der Nationalmannschaft gegeben hatte, als Libero die Liga dominierte und knallharte Manndeckung sowie Vorstopper zum Inventar des deutschen Fußballs zählten, kam der Auftritt einer Revolution gleich. Der Boulevard verpasste Rangnick danach den Spitznamen "Taktik-Professor". Viele seine Trainerkollegen rümpften die Nase. Im nächsten Vierteljahrhundert prägte Rangnick die taktische Entwicklung des deutschen Fußballs wie wohl kein Zweiter. Er war Vorreiter der ballorientierten Raumdeckung und revolutionierte damit das Land des Liberos. Der Aufstieg mit Ulm sprang allerdings nicht dabei heraus, weil Rangnick vorzeitig zum VfB Stuttgart wechselte. Die von ihm gebaute Mannschaft des SSV stieg trotzdem auf. Sowohl in Stuttgart wie auch bei seinen nächsten Stationen in Hannover und Schalke prägte Rangnick Teams nach seiner taktischen Fasson. Und das größtenteils mit Erfolg. Stuttgart rettete er vor dem Abstieg und gewann dann den UI-Cup; Hannover führte er mit berauschendem Fußball in die Bundesliga. Dort angekommen lobte sogar der damalige Kanzler und 96-Edelfan Gerhard Schröder bei einem Stadionbesuch die Arbeit Rangnicks. Immer Ärger mit den Alphatieren Aber: Bei allem fußballerischen Spektakel eckte der Trainer auch immer wieder an – und zwar meistens mit sogenannten Alphatieren, die als meinungsstark galten. In Stuttgart suspendierte er Klubikone Krassimir Balakow, in Hannover gab es regelmäßig Meinungsverschiedenheiten mit Präsident und Geldgeber Martin Kind. Zum vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung kam es aber beim FC Schalke . "Wenn die einen Psychologen brauchen, dann sollen die zu mir hochkommen. Brauchen wir nicht." Dort hatte Rangnick Ende September 2004 angeheuert und das Team innerhalb eines halben Jahres von Platz 17 auf eins gebracht. Obwohl es am Saisonende in Meisterschaft und Pokal nur zum Vizestatus reichte, lagen ihm die Fans zu Füßen. In dem Drang, den Klub immer weiterzuentwickeln, beschäftigte sich Rangnick mit zahlreichen Details, die er rund um das Team als verbesserungswürdig ansah. Teilweise geradezu verbissen, wie ihm einige Mitstreiter später vorwarfen. Unter anderem schlug der ambitionierte Trainer seinem Manager Rudi Assauer nach der verpassen Meisterschaft vor, einen Sportpsychologen zu holen. Die flapsige Antwort des Managers: "Hör mal, wenn die einen Psychologen brauchen, dann sollen die zu mir hochkommen. Brauchen wir nicht." Dieses Beispiel zeigt, dass Rangnick seiner Zeit nicht nur taktisch voraus war – denn sportpsychologische Unterstützung ist in der Bundesliga mittlerweile völlig normal. Allerdings scheiterte der vielfach als Konzepttrainer bezeichnete Schwabe oftmals an der Vermittlung seiner Ideen. Die Sache mit der Ehrenrunde Auch wurden ihm Arroganz und Besserwisserei vorgeworfen – was in der finalen Konsequenz meistens zur vorzeitigen Entlassung führte. So wie auf Schalke, als Rangnick nach einer sportlichen Talfahrt Ende 2005 kurz vor der Entlassung stand und sich noch vor der Partie gegen Mainz bei den Fans mit einer Ehrenrunde verabschiedete. "Am nächsten Tag rief mich Manager Andreas Müller an und sagte, dass Rudi Assauer das als Affront empfunden hat und man sich deswegen trennt", verrät Rangnick in einer NDR-Dokumentation aus dem Jahr 2023. Mittlerweile blickt er kritisch auf seine Aktion damals zurück und äußert Verständnis für die Entscheidung. Nach seiner Zeit bei S04 startete Rangnick komplett neu. In der Provinz. Weit entfernt von der großen Fußballwelt. Der Milliardär Dietmar Hopp bat ihn, seinen Heimatverein TSG Hoffenheim in die erste Liga zu führen – auf den ersten Blick ein wahnwitziges Unterfangen. Doch Rangnick war direkt begeistert, willigte ein und baute einen Klub ganz nach seinem Gusto. Diesmal nahm er nicht nur Einfluss auf die Taktik, sondern bestimmte auch das Drumherum – von Transfers über Trainingszentrum bis hin zum Nachwuchs. Der Start war allerdings gewöhnungsbedürftig: "Das Trainingsgelände war mitten im Dorf. Hinter dem einen Tor war ein Kuhstall, wo man die Kühe auch gehört und gerochen hat", lässt Rangnick diese Zeit heute Revue passieren. Mit Hopps Millionen zum Fußballwunder Doch zur Überraschung der Fußballnation hatte der Taktikenthusiast Erfolg. Innerhalb von zwei Jahren führte er das Team aus dem 3.500-Einwohner-Stadtteil von Sinsheim an die Spitze der Bundesliga. "Großartig. Und ein bisschen märchenhaft. Wir hatten eine super junge, hungrige Mannschaft, die einen Fußball gespielt hat, den man in Deutschland noch nicht so oft gesehen hat", erinnert sich Rangnick. Mit Toptalenten wie Andreas Beck, Demba Ba, Chinedu Obasi, Luiz Gustavo und Carlos Eduardo, die dank der massiven finanziellen Unterstützung von Milliardär Hopp den Weg in den beschaulichen Kraichgau fanden, stürmte die TSG 2008 zur Bundesliga-Herbstmeisterschaft. Doch das stieß nicht überall auf Begeisterung. Fans vieler Traditionsvereine beäugten den Provinzklub, der dank massivem Geldeinsatz an der Spitze des deutschen Fußballs angekommen war, kritisch. Bei Auswärtsspielen schlug Team und Trainer teilweise blanker Hass entgegen. Rangnick ging seinen Weg mit der TSG trotzdem weiter – bis zum Neujahrstag 2011. An diesem trat er nach kolportierten Meinungsverschiedenheiten mit Hopp zurück – und heuerte nur drei Monate später wieder bei Schalke an. Mit den "Knappen" erreichte der Schwabe wenige Wochen später das Halbfinale der Champions League und gewann mit dem DFB-Pokal seinen ersten großen Titel. Diagnose: Burn-out Nicht einmal ein halbes Jahr danach verließ er den Klub unerwartet. Der Grund: eine Burn-out-Erkrankung. Der Tausendsassa Rangnick konnte nicht mehr. Ungewöhnlich für das Fußballgeschäft thematisierte er offen seine Diagnose. "Er ist damit so mutig umgegangen. Ganz klar, ganz professionell. Da ist etwas in Schieflage. Ich brauche Zeit und Unterstützung. Nichts anderes als eine körperliche Verletzung", beschrieb Professor Jan Mayer, ehemaliger Sportpsychologe und heutiger Geschäftsführer der TSG Hoffenheim, diesen Schritt. Rangnick bewies, dass mentale Probleme heilbar sind – auch in einer knallharten Branche wie der Bundesliga. Nach zehn Monaten Auszeit wechselte er als Sportdirektor zu den Klubs von Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz. Mit diesem hatte es zuvor ein ähnliches Gespräch gegeben wie damals mit Hopp. Hoffenheim reloaded – nur viel größer Und auch diesmal hatte Rangnick Erfolg – und zwar in einer deutlich größeren Dimension als in Hoffenheim. Nach zwei gescheiterten Aufstiegen in die 3. Liga marschierte RB Leipzig innerhalb von fünf Jahren zum Bundesliga-Aufstieg und in die Champions League. Dabei übernahm Rangnick auch immer wieder selbst das Traineramt bei den Sachsen. Nebenbei baute er den Klub – wie schon damals in Hoffenheim – komplett neu auf. Nach seinen Vorstellungen von Fußball. Geldgeber Mateschitz ließ ihm freie Hand und der Erfolg gab Rangnick recht. Denn das Vorhaben stieß nicht nur auf Zustimmung. Im Gegenteil. Wie damals in Hoffenheim kritisierten besonders die Anhänger großer Traditionsvereine das Leipziger Projekt, welches von vielen noch heute als Marketingvehikel von Red Bull angesehen wird. Ganz abgesehen von der massiven finanziellen Unterstützung durch den Konzern und den auffälligen Transfers mit den Schwesterklubs. Ungewöhnliches Intermezzo in Manchester Mittlerweile hat sich der Getränkefabrikant ein kleines Fußball-Imperium aufgebaut, zu dem neben den Klubs Red Bull Salzburg und RB Leipzig auch die New York Red Bulls und Red Bull Bragantino in Brasilien gehören. 2019 wurde Rangnick Verantwortlicher für dieses Klubkonglomerat. Ein Jahr später verließ er den Red-Bull-Kosmos und gründete 2021 eine Beraterfirma, über die er Lokomotive Moskau im Management unterstütze. Danach kehrte Rangnick zu seiner ursprünglichen Passion – dem Trainerberuf – zurück. Und zwar auf die ganz große Bühne: bei Manchester United mit Weltstar Cristiano Ronaldo . Im Nordosten Englands wurde er aber nicht glücklich. Nach einem wenige Monate dauernden Intermezzo als Interimscoach und Berater der "Red Devils" startete Rangnick in einem Alter, in dem andere die Rente planen, ein neues Projekt: Er hat die österreichische Nationalelf um Real Madrids David Alaba übernommen und souverän die Qualifikation für die Europameisterschaft in Deutschland geschafft. Doch gerade jetzt ruft der FC Bayern . Österreichs 103-facher Nationalspieler Andreas Herzog erklärt dazu bei t-online: "Sein großes Ziel war immer, mit Österreich bei der EM in Deutschland als Deutscher dabei zu sein. Da könnte ich mir schon vorstellen, dass bei ihm Interesse da sein könnte, wenn Bayern ruft." Es wäre die vermeintliche Krönung einer Karriere, die mit einem denkwürdigen TV-Auftritt an der Taktiktafel vor über 25 Jahre gestartet ist.