Academy Awards: Tatort Hollywood: Der deutsche Film braucht keine Oscar-Gewinner
So verdient sie auch wäre – eine Auszeichnung für Sandra Hüller, Wim Wenders oder İlker Çatak würde den deutschen Film auch nicht weiterbringen. Der ist nämlich auch so auf einem guten Weg.
"Sandra Hüller und deutsche Regisseure gehen leer aus" – das ist laut unserer Überschrift beim stern die wichtigste Erkenntnis aus der Oscarnacht 2024. Auch wir konzentrieren uns vor allem darauf, was deutsche Filmschaffende in der Nacht zu Montag alles nicht gewonnen haben.
Aber diese Fokussierung auf das Scheitern, das ist deutsche Leitkultur. Was wir stattdessen hätten titeln sollen: Herzlichen Glückwunsch! FS Oscar Gewinner 2024 6:43
"Made in Germany" – bald ein Qualitätssiegel in Hollywood?
Sandra Hüller war als beste Hauptdarstellerin nominiert – in einem französischen Drama. Auch Wim Wenders hätte mit "Perfect Days" einen Oscar holen können – für Japan. Im Historienfilm "Zone of Interest" übernahmen deutsche Schauspieler die Hauptrollen – in einer britisch-amerikanisch-polnischen Koproduktion. Dass es mit "Das Lehrerzimmer" von İlker Çatak ein deutscher Film ohne pralles PR-Budget ins Dolby Theatre geschafft hat, einfach nur, weil er gut ist, das ist die wahre Erfolgsgeschichte des Abends. Und so macht diese Oscar-Nacht Hoffnung. Hoffnung darauf, dass "Made in Germany" bald auch in Hollywood als Qualitätssiegel gilt.
Nur sind wir da noch nicht. Nach wie vor ist deutscher Film oft kaum zu ertragen. Schwer zu sagen, wer die Schuld am maximalen Mittelmaß trägt: Die geknechtete Masse Fernsehschauspieler, für die Overacting Werkseinstellung ist? Das Publikum, das höchstens eine Wendung pro Spielfilmlänge verträgt? Die Drehbuchautoren, die Dialoge für Chatroboter statt für Menschen schreiben? Die Filmförderanstalten, die aus kultivierter Angst auf die 23. Schweighöfer-Komödie setzt? Vermutlich von allem ein bisschen.
Aber es geht ja! In den vergangenen Jahren hat die heimische Filmindustrie fantastische Fortschritte gemacht. Filme wie "Aus dem Nichts", "Sonne und Beton" und "Aus dem Westen nichts Neues" waren so beeindruckend, dass man ihnen beim ersten Ansehen das Deutschsein abspricht. Serien wie "Vier Blocks", "Babylon Berlin", "Dark" oder "Bad Banks" haben auch die Nach-Tatort-Generation gepackt, jene jungen Zuschauer, die lineares Fernsehen nur noch als Serviervorschlag in Omas angestaubter Programmzeitschrift kennen. Dazu brauchte es ein Erdbeben, wie nur Streaminggiganten es auslösen können. Netflix, Sky oder Disney mögen zwar ihrer kapitalistischen Natur geschuldet eher Investoren denn Philanthropen sein. Ihre Millionen haben aber großen Anteil daran, dass die Filmindustrie hierzulande inzwischen weit mehr vom Fließband schubst als den allsonntäglichen Fernsehmord. Vom Rosamunde-Pilcher-Fastfood zur Oscar-Delikatesse, das scheint allmählich möglich. İlker Çatak im Interview11.59
Die Sehnsucht nach dem "Wir-sind-Papst"-Moment bei den Oscars
Hätte Sandra Hüller den Oscar gewonnen, wäre das sicherlich ein wahr gewordener Traum für sie, vor allem aber eine enorme Befriedigung für die deutsche Mittelpunktssehnsucht gewesen. Von der leicht verdaulichen, aber doch geschmackslosen Hausmannskost sediert, lechzt das Land der Dichter und Querdenker nach der Stellvertreterprominenz, die uns bisher verwehrt blieb.
Wenn also ein Hollywood-Fixstern wie Leonardo DiCaprio im Zuge einer Pressetour auf Drängen von Journalisten an der Aussprache des Wortes "Braahtworst" erstickt, reanimiert das ein totgeglaubtes Wir-Gefühl ins uns. Als wäre es auf einmal durchaus im Bereich des Möglichen, dass DiCaprio in Castrop-Rauxel mit in der Schlange beim Bäcker steht.
Wen haben wir denn schon? Daniel Brühl teilen wir uns mit Spanien. Diane Krüger fühlt sich in Paris wohler als in Peine. Michael Fassbender spricht ähnlich akzentfreies Deutsch wie ein Barista in Berlin-Mitte. Hans Zimmer? Lebt schon seit Stummfilmzeiten im selbstgewählten Exil. Das deutsche Verlangen nach kollektiver Anerkennung geht so weit, dass wir die Herkunft des armen Christoph Waltz halbieren. Der Mann ist zu (mindestens) 50 Prozent Österreicher, finden wir uns damit ab.
Hätte Sandra Hüller also in Los Angeles triumphiert, hätten wir das sogleich gierig für uns eingenommen – als den "Wir sind Papst"-Moment in Hollywood. Nur braucht Deutschland als Filmland keinen Messias, es braucht eine Revolution. Und zu einer solchen trägt ein stetiger Qualitätsstrom à la "Das Lehrerzimmer" weitaus mehr bei als ein kurzer Moment im Scheinwerferlicht.