Sami: Tradition Rentierzucht: Wie die Ureinwohner Nordskandinaviens heute leben – und was Reisende wissen sollten
Die Ureinwohner:innen Nordskandinaviens bewohnen Teile von Schweden, Norwegen, Finnland und Russland. Die Samen haben ihr Siedlungsgebiet in der Region Lappland. Was wir von den Sami lernen können, erklärt Journalist Tilmann Bünz im Interview.
Für die ARD war Journalist und Filmemacher Tilman Bünz ab 2002 als Korrespondent in Skandinavien unterwegs. Damit ging für ihn ein Traum in Erfüllung. Schon als Junge wollte er in Schweden leben: Dort schien vieles besser. Auf den Autobahnen wurden keine Rennen gefahren. In der Natur galt das Jedermannsrecht und es gab das schöne Wort vom "Folkhem"", wo sich alle sicher fühlen konnten, beschreibt es Tilmann Bünz. Als er einer Sami-Frau begegnet, stößt er das erste Mal auf Ungleichheit in Schweden und seine Neugierde für die Sami, die Ureinwohner:innen Nordskandinaviens, ist geweckt. Was wir von dem Urvolk in Lappland lernen können und was Reisende im Umgang mit ihnen beachten sollten.
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Die Sami-Frau Victoria Harnesk schaffte es 2003 auf das Titelbild einer Obdachlosenzeitung in Stockholm. Sie war dort in der Tracht der Sami abgebildet mit der Zeile: "Hier kann ich meine Tracht tragen. Anders als in den Bergwerkstädten meiner Heimat." Das hat mich neugierig gemacht – Diskriminierung ausgerechnet in Schweden? Sie wohnte damals auf Lidingö, ganz in unserer Nähe, und nach ein paar Tassen Kaffee haben wir einen Art Pakt geschlossen, der bis heute besteht. Wir dokumentieren ihr Leben mit der Kamera und sie vermittelt als Kulturbotschafterin, was man über ihr Volk wissen sollte.
Victoria Harnesk ist heute Herausgeberin von "Samefolk" der wichtigsten Zeitschrift der Sami, und kennt beide Welten: das städtische Leben ebenso wie die traditionelle Welt der Rentierhirten. Wenn sie Sehnsucht nach der Heimat hatte, ging sie in Stockholm zum Kühlschrank. Der war randvoll mit Rentierfleisch aus der Herde ihres Vaters. Ich habe Victoria mein Buch gewidmet, weil sie mich lehrte, ihr Land zu sehen.
Die Sami leben also traditionell von der Rentierzucht. Was die nordskandinavischen Ureinwohner:innen noch ausmacht, dürfte vielen Menschen unbekannt sein. Was muss ich über die Sami wissen?
Etwas salopp gesagt: Das Volk der Samen hatte etwas mehr Glück als andere Ureinwohner. Die Inuit in Grönland beispielsweise haben eine schreckliche Geschichte der Zwangsumsiedlungen und des Verlusts ihrer Einnahmequellen hinter sich. Ich war auch viel in Grönland, und das ist ein anderes Schicksal als jenes der Samen. Historisch ist den Sami auch Unrecht getan worden – hier gab es Vertreibung und eine Art Apartheid. Sami mussten in spezielle Schulen gehen, auf dem Boden schlafen und nicht mit Messer und Gabel essen. Victorias Großmutter hat das noch erlebt. Ihre Sprache war verpönt. Der Staat nahm sich sogar das Recht, nach Belieben Sami-Frauen zu sterilisieren.
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Doch in den letzten 20 bis 30 Jahren haben die Samen einen unglaublichen politischen und kulturellen Aufschwung erlebt – durch ein nichtdiskriminierendes Bildungssystem. Sie sind heute eine vitale und stärker werdende Minderheit. Es gibt heute ausgesprochen viele gut gebildete Sami.
Hat die traditionelle Sami-Kultur noch einen Platz im modernen Schweden?
Ein Großteil der Sami arbeitet heute – anders als wir Westeuropäer uns vielleicht das Leben von Ureinwohnern vorstellen – in ganz verschiedenen Berufen: von der Romanschreiberin über den Mechaniker bis hin zur Juristin. Und natürlich leben sie mit Zentralheizung und Breitband-Internet.
Die Sami haben einige Vorrechte in Schweden – zum Beispiel das Recht, Rentiere zu halten und zu schlachten. Das ist den restlichen Schweden verboten. Wer Rentiere hält, braucht dafür sehr viel Platz, weil die Rentiere wandern müssen und nicht auf einer Weide stehen können. Dadurch stehen den Sami sehr große Landflächen zur Verfügung. Es gibt also auch noch Sami, die noch heute von der traditionellen Einkommensquelle des Urvolks leben – etwa jeder Fünfte von insgesamt rund 20.000 Sami in Schweden. Die alten Rechte der Sami sind immer wieder Diskussionspunkte in der schwedischen Gesellschaft. Diese Privilegien sind vielen Skandinaviern ein Dorn im Auge, weil die Gesellschaft stark davon geprägt ist, dass jeder gleich ist und niemand Vorrechte haben sollte.
Wie stark werden die Sami heute von der Mehrheitsgesellschaft in Skandinavien als Teil von ihr angesehen?
Also es reicht auf jeden Fall dafür, um bei der Grand-Prix-Vorausscheidung mit dem samischen Lied die Mehrheit in einer Abstimmung in der Bevölkerung zu kriegen. Auch das schwedische Königshaus betont, dass es wichtig ist, von den Sami zu lernen und zum Beispiel ihr Kunsthandwerk wertzuschätzen. Die Sami haben viele Bewunderer. Aber das Urvolk ist auch eine Projektionsfläche – die Schweden haben eine Vorstellung davon, wie die Ureinwohner leben sollten, und es passt ihnen nicht, wenn die Sami diese Vorstellung nicht erfüllen.
Wie nachhaltig leben die Sami?
Da der Klimawandel in der Arktis viermal schneller voranschreitet als bei uns, sind die Sami auch eine Art Frühwarner. Auch das hat uns Victoria Harnesk immer wieder eindringlich vermittelt.
In ihrem Umgang mit der Natur und den Rentieren sind die Samen sehr nachhaltig. Wird ein Rentier geschlachtet, wird alles vom Tier genutzt, und wenn Sami traditionell leben und an einem Ort gelebt haben, hinterlassen sie kaum Spuren. Deswegen wächst die Zahl ihrer Bewunderer. Doch durch diese Vorbildrolle in Sachen Nachhaltigkeit wird den Sami auch jeder vermeintliche Fehltritt angekreidet. Wenn sie beispielsweise mit Schneescootern durch Gelände brausen, statt zu Fuß zu gehen – trifft sie besonders viel Ablehnung. Und es wird übersehen, dass sie das nicht zum reinen Vergnügen tun, sondern um ihre Herden zu geleiten.
Was können sich Industrieländer von den Sami abschneiden?
Ein Beispiel: Wenn die Sami einen Baum fällen, entschuldigen sie sich im Geiste bei ihm dafür. Sie verarbeiten Knollen von Birken zu "Guksis" – das sind Holztassen, die ein ganzes Leben lang halten. Und in Deutschland werden laut Bundesumweltministerium stündlich rund 320.000 Einwegbecher für Heißgetränke verbraucht. Der Becher kommt aus Skandinavien und wird mit großem Energieaufwand in Südasien veredelt – mit Plastik beschichtet. Und landet bei uns in fünf Minuten im Müll. Das ist so eine Sache. Da fragt man sich, was irrsinniger ist, einen Baum um Entschuldigung zu bitten oder einen Einwegbecher schon nach ein paar Minuten in die Tonne zu werfen.
Worauf sollten Reisende im Umgang mit den Samen achten?
Urlauber sollten den Begriff Lappen für das nordskandinavische Urvolk nicht mehr benutzen. Er ist nicht mehr erwünscht und auch nicht mehr gebräuchlich. Stattdessen Sami oder Samen nutzen. Oder Sami People auf Englisch. Und man darf einen Sami niemals nach der Größe seiner Rentierherde fragen – die Antwort wäre langes Schweigen. Das wäre, als würde man uns nach der Steuererklärung fragen.
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