FC Bayern: Der Sieg gegen Lazio war die Tuchel-Befreiung
Dem FC Bayern ist mit dem Viertelfinaleinzug in der Champions League ein Befreiungsschlag gelungen. Auch die Debatte um Cheftrainer Thomas Tuchel ist damit beendet. Aus der Allianz Arena berichtet Julian Buhl Es war schon nach Mitternacht, als Thomas Tuchel durch die Katakomben der Allianz Arena Richtung Ausgang lief oder besser gesagt: humpelte. Die Strapazen, die der vorangegangene 3:0-Heimsieg gegen Lazio Rom und der damit verbundene Einzug ins Viertelfinale der Champions League mit sich gebracht hatten, hinterließen auch bei dem Bayern-Trainer deutlich erkennbare Spuren. Mannschaftsarzt Dr. Jochen Hahne, der hinter ihm herlief, trug seine Jacke und zog auch seinen Rollkoffer für ihn hinter sich her. Warum all das nötig und was genau passiert war? "Das habe ich doch schon fünfmal erzählt", entgegnete Tuchel nur und entschwand dann, so schnell er eben konnte, in die Nacht. Seine ganz persönliche Heldengeschichte, die er an diesem Abend geschrieben hatte, hatte da freilich längst die Runde gemacht. "Die Motivationsrede vor dem Spiel hat mich meinen großen Zeh gekostet", hatte Tuchel selbst bei Prime Video erklärt. In der Pressekonferenz berichtete der 50-Jährige später, dass er gegen eine Tür getreten und sich dabei wohl den Zeh gebrochen habe. Er habe während des Abends keinen Mut gehabt, den Schuh auszuziehen. Dann wäre er kaum mehr hineingekommen, sagte Tuchel, der aber mit einem Augenzwinkern betonte: "Das Opfer habe ich gerne gebracht." Tuchels Tritt als Initialzündung für Bayern Denn möglicherweise hat er genau damit den Kickstart und die Initialzündung bei seiner Mannschaft ausgelöst, auf die er in den vergangenen Wochen und Monaten mit sämtlichen ihm als Chefcoach zur Verfügung stehenden Mitteln vergeblich hingearbeitet hatte. Der schmerzhafte Tritt an die Tür ist allerdings in keinem Trainerhandbuch zu finden. Noch nicht. Thomas Müller scherzte: "Ein bisschen Schwund ist immer. Profisport ist immer auf enge Kante genäht. Nur mit Früchtetee machen wir es nicht." Auch Präsident Herbert Hainer witzelte: "Lieber bricht sich der Trainer den Zeh als einer unserer Spieler." Tuchels emotionaler Kabinenansprache ließ die Mannschaft im wichtigsten Spiel der Saison jedenfalls ihre beste Leistung des aktuellen Kalenderjahres folgen. Tuchel hat damit sein "Endspiel", zu dem es zumindest viele Medien zuvor erklärt hatten, gewonnen. Die Debatte um eine sofortige Entlassung nach der ohnehin zum Ende dieser Saison bereits beschlossenen Trennung ist damit beendet. Endgültig, wie Hainer im Gespräch mit t-online erklärte: "Natürlich, das haben wir ja immer gesagt. Der Thomas ist bis zum Ende der Saison Trainer." Hainer nannte den Sieg sogar "eine Befreiung für uns alle". Weil man damit zumindest in der Königsklasse das Minimalziel Viertelfinale nun erreicht hat. Zudem wisse man, "dass mit dem Sieg jetzt auch Ruhe im Klub ist". Wie jemand, der die Lust auf das Coachen seiner Mannschaft und möglicherweise den Zugriff auf sie verloren hat, wirkte Tuchel in der Kabine jedenfalls nicht. Im Gegenteil. "Er ist voller Enthusiasmus und Leidenschaft an Bord, und ja, ich glaube, wir werden noch einige gute Spiele sehen", sagte Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen. Kimmich über Tuchel: "Er macht das wirklich herausragend" Ausgerechnet Joshua Kimmich, der zuletzt mit einem intensiven Wortgefecht mit Co-Trainer Zsolt Löw Aufsehen erregt hatte und von Tuchel aus dem Mittelfeld auf die Rechtsverteidigerposition gezogen wurde, war nun ebenfalls äußerst angetan von seinem Chefcoach. "Auch für den Trainer ist die Situation total ungewöhnlich, und dafür macht er das wirklich herausragend", sagte Kimmich, dessen Verhältnis zu Tuchel als kompliziert gilt. "Wie motiviert er da ist, auch für uns als Mannschaft." Man könnte es "ja an deren Stelle auch anders angehen und sagen, jetzt ist es uns scheißegal", so Kimmich über das gesamte Trainerteam, "aber, das muss man schon sagen, machen sie wirklich top." Tuchels Matchplan gegen Rom, wo Bayern noch vor drei Wochen überraschend mit 0:1 verloren hatte, ging jedenfalls voll auf. Die um die beiden starken Innenverteidiger Matthijs de Ligt und Eric Dier formierte Abwehr stand sicher und blieb erstmals seit Ende Januar und dem 1:0-Sieg gegen Union Berlin wieder ohne Gegentor. Im Aufbau zog Tuchel Leon Goretzka auf die linke Seite der beiden in eine Dreierkette zurück, womit er dem Bayern-Spiel einen variableren und unberechenbareren Spielaufbau sowie seinen Schienenspielern Kimmich und Raphaël Guerreiro Freiraum im Spiel nach vorne verschaffte. Und vorne war einmal mehr Harry Kane zur Stelle, der in seinem 33. Pflichtspiel seine Treffer Nummer 32 und 33 erzielte. Sie erinnern fast schon an die alten Bayern Die Bayern erinnerten mit ihrer Souveränität und Dominanz so fast schon wieder an die alten Bayern. Weil ihnen beides in den vergangenen Wochen und Monaten mehr und mehr abhandengekommen war, steuert der Rekordmeister nun erstmals seit 2012 auf eine titellose Saison zu. Im Pokal ist man bereits gegen Drittligist Saarbrücken (1:2) ausgeschieden, in der Bundesliga zehn Punkte hinter Tabellenführer Leverkusen. In der Champions League hat man es jetzt immerhin ins Viertelfinale geschafft. "Nächte wie diese können eine Saison verändern", sagte Kane und sprach sogar von einer "perfekten Nacht". Sein persönliches Traumziel ist momentan zwar noch weit entfernt, mit dem Einzug in die Runde der besten acht Teams bleibt es aber zumindest theoretisch noch in Reichweite: Es heißt London, Wembleystadion, wo am 1. Juni das Champions-League-Finale ausgetragen wird. "Es war ein großes Spiel. Wir lagen 0:1 nach dem Hinspiel zurück und haben eine großartige Leistung gezeigt, das war ein großer Moment in unserer Saison", sagte Kane, der nach zahlreichen Rückschlägen in den vergangenen Wochen die Hoffnung formulierte, damit doch noch an einem "Wendepunkt" angekommen zu sein. "Es wäre vermessen, jetzt schon viel, viel weiter zu träumen", betonte allerdings gleichzeitig Dreesen, der bei der Jahreshauptversammlung im November Wembley noch als klares Ziel ausgegeben hatte. Neuer: "Haben uns unser Selbstverständnis zurückerarbeitet" Aber auch Kapitän Neuer glaubte zumindest: "So ein bisschen haben wir uns unser Selbstverständnis vom Fußballspielen zurück erarbeitet." Auch Max Eberl erkannte einen Schritt in die richtige Richtung. Die Situation "um uns herum" sei ja nicht leicht, die Konstellation sei ausreichend viel diskutiert. "Da haben wir jetzt einfach das Statement gezeigt: Hey, wir sind da, wir können das, wir haben es alle akzeptiert, wie die Situation ist", sagte der neue Sportvorstand des FC Bayern zu t-online. Eberl hofft darauf, dass aus dem Sieg gegen Lazio nun endlich wieder ein wenig Euphorie im Klub entstehen könnte. Es gehe darum, "dieses positive Gefühl mitzunehmen, ohne jetzt zu sagen, wir sind schon wieder auf der ganz anderen Seite der Medaille." Die Devise laute: "Das Positive mitnehmen und trotzdem realistisch bleiben." Eberl propagierte einen Ansatz der "kleinen Schritte" und zählte dabei eine gute Halbzeit gegen Freiburg und die 90 durchweg guten Minuten gegen Lazio auf, denen am Samstag gegen Mainz 90 weitere folgen sollen. Müller: "Wollen dem Fußballgott noch mal eine Chance geben" Er kenne "diese kleinen" notwendigen Schritte sehr wohl. "Bei Bayern kennt man sie nicht so. Da geht es eigentlich immer nur in großen Schritten voran", führte Eberl aus: "Bayern muss jetzt auch ein bisschen kleinere Schritte gehen, aber die gehen wir." Dazu sei die Mannschaft trotz der zehn Punkte Rückstand auch in der Meisterschaft nach wie vor bereit und habe ihre Hoffnung auf den zwölften Titel in Folge noch nicht komplett aufgegeben, wie Müller verriet. "Wir wollen dem Fußballgott schon noch mal eine Chance geben, dass er die Klischees beibehalten kann", sagte der Vizekapitän grinsend in Anspielung auf die vielen unglücklichen zweiten Plätze für Leverkusen in der Vergangenheit: "Es sieht aktuell nicht nach Vizekusen aus, aber wir wollen dranbleiben." Es scheint so, als sei es Tuchel gelungen, den Kampfgeist beim Rekordmeister zumindest vorerst wieder zu wecken. Was es dafür brauchte, daran werden ihn seine Schmerzen in jedem Fall noch ein paar Tage, vielleicht auch noch Wochen erinnern. Darauf kann er nun aber definitiv wieder deutlich entspannter vorausblicken.