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2024

Supertele im Zweiten Weltkrieg: Die V1 im Fokus von Fernkameras: Als Vergeltungswaffen London bedrohten

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Ein unbekanntes Kapitel deutscher Fotogeschichte: Von 1940 bis 1944 kamen an der Kanalküste Kameras mit extremen Brennweiten von 42 Metern zum Einsatz. Nach 80 Jahren sind unbekannte Fotos aufgetaucht, die auch die Abwehr gegen die V1 dokumentieren.

 

Mit seinen weißen Kreidefelsen gehört das Cap Blanc-Nez nicht nur geographisch zu den markantesten Küstenabschnitten Frankreichs. Seit Jahrhunderten hat der Felsvorsprung zur Beobachtung des Schiffsverkehrs auch eine herausragende strategische Bedeutung. Hier, an der schmalsten Stelle des Ärmelkanals zwischen Calais und Boulogne-Sur Mer, kann man bei klarer Sicht von der 132 Meter hoch gelegen Kuppe bis nach Dover und Folkestone in Südengland blicken. 

Die Entfernung zwischen Festland und den Britischen Inseln beträgt nur 34 Kilometer Luftlinie. In der Nähe startete 1909 Louis Blériot zum ersten erfolgreichen Flug über den Ärmelkanal. Nur vier Kilometer östlich des Cap Blanc-Nez, der "weißen Nase", verschwindet die Trasse der Eurostar-Züge unter der Erde, die seit 1994 durch den Eurotunnel zwischen Paris und London in etwas mehr als zwei Stunden verkehren.

Das Auge der Fernkampfbatterie

Wer heute das begrünte Cap auf seinen Wanderwegen besucht, kann die vielen Bombentrichter nicht übersehen. Denn hier unterhielt im Zweiten Weltkrieg die deutsche Kriegsmarine nach der Besetzung Frankreichs eine Foto-Beobachtungsstation mit ungewöhnlich langen Brennweiten. 

In einer unscheinbaren Holzbaracke unterhalb der Bunkerreste befand sich die Dienststelle FK21 mit Teleobjektiven, deren Brennweiten nicht in Milli- oder Zentimeter angegeben wurden, sondern in Metern, und deren längste Brennweite 42 Meter betrug.

Um die Schiffsbewegungen in der auch bei sonnigem Wetter dunstigen Straße von Calais und vor der englischen Küste zu dokumentieren, kam infrarot-empfindliches Plattenmaterial im Format 13 mal 18 Zentimeter zum Einsatz.

Neben einer Serienkamera mit drei Metern Brennweite von der Firma Zeiss wurde eine Telekamera mit vier verschiedenen Brennweiten genutzt, eine Sonderkonstruktion des Heereswaffenamtes. In den Strahlengang des Hohlspiegels ließen sich bestimmte Linsenkombinationen einschalten, die Brennweiten von 16, 21, 28 und 35 Metern erzeugten. Die gesamte Konstruktion lief auf einem Schienenhalbkreis und sah einem Kanonenrohr ähnlich, war allerdings aus Blech gefertigt. Das Supertele mit 42 Metern Brennweite war als Einzelkamera oben auf die bewegliche große Röhre montiert.

Die Leistungsfähigkeit der Objektive zeigen die Aufnahmen der englischen Küste, ob vom Normannenschloss in Dover bis hin zu militärischen Einrichtungen wie Radaranlagen. 

Das Castle Dover, aufgenommen im Sommer 1942 mit einer Brennweite von 28 Metern.
© Archiv Bartels

Der genaue Standort der gegnerischen Fernkampfgeschütze wurde per Doppelbelichtung ermittelt: Während eines nächtlichen Beschusses wurde der Verschluss geöffnet und auf diese Weise das Mündungsfeuer auf die Platte gebannt. Nach der Salve wurde die Kamera geschlossen und bei gutem Wetter mit einer Tagaufnahme nachbelichtet.

Die militärische Einrichtung stand im engen Austausch mit den Geschützstellungen der Batterie Lindemann und der Batterie Todt, die sich weiter südwestlich am Cap Gris-Nez befand. Dieses zweite "graue Kap" war eine der wichtigsten Befestigungsanlagen des von den Deutschen errichteten Atlantikwalls. Von hier aus wurden Ziele in England beschossen. Heute ist in mehreren Bunkern das Musee du Mur de l'Atantiqueuntergebracht, der markante Leuchtturm entstand erst in den späten 1950er Jahren. 

Ab Juni 1944 fliegt die V1 nachts über den Kanal

Aufschlussreich sind die Fotografien, die kurz nach der Landung alliierter Truppen in der Normandie, dem D-Day am 6. Juni 1944, entstanden. In der letzten Phase des Krieges am Kanal kam ab dem 12. Juni erstmals eine neue Waffengeneration zum Einsatz, die Vergeltungswaffe Fieseler Fi 103, auch kurz V1 genannt.

Ein Exemplar einer V1 im Imperial War Museum in London.
© Archiv Bartels

Die unbemannten und ferngelenkten Flugkörper mit einer 850 Kilogramm schweren Sprengladung wurden nachts von 25 Meter langen Katapulten im Hinterland oder von Trägerflugzeugen meist mit dem Ziel London gestartet. Die Langzeitbelichtungen der Fernkameras am Cap Blanc-Nez zeigen nicht nur die Flugbahnen über den Kanal als weiße Striche, denn die Strahltriebwerke der fliegenden Bomben zogen einen leuchtenden Abgasstrahl hinter sich her. Vielmehr dokumentieren die Fotografien, wie innerhalb einer Woche das Abwehrsystem aus Flakgeschützen, Jägerstaffeln und mittels Hunderten von Fesselballonsperren entstand.

Gleichzeitig nutzten die Nationalsozialisten die V1 an der Heimatfront als Propaganda-Instrument, als "Vergeltungswaffe" für die Bombardierung deutscher Städte durch alliierte Flugzeuge. In der deutschen Presse kursierten Bezeichnungen wie "Wunderwaffe", "funkgesteuerte Bombe" und "pilotenloses Flugzeug". In den britischen Medien war dagegen von der verheerenden Wirkung die Rede, denn die "Roboterbomben" trafen Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser. Bei den Angriffen kamen in England fast 6000 Menschen ums Leben, etwa 16.000 wurden verletzt. In Summe registrierten die Briten 9251 V1-Einflüge, allerdings erreichten nur 2419 den Großraum London. Ein Großteil der Flugkörper verfehlte die britische Hauptstadt. Die Fotoauswertungen von FK21 ergaben, dass bei den auf London bis zum 1. September 1944 durchgeführten Attacken 80 Prozent der V1 vorzeitig abgelenkt und vernichtet wurden. 

20.000 Tote bei der Produktion

Das verschwieg die deutsche Propaganda. Ebenso die Umstände der Produktion, die in der Endphase des Krieges unterirdisch im Südharz durch Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora durchgeführt wurde. An die 20.000 KZ-Insassen starben unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in den Stollen – mehr als die V1 im Einsatz an Opfern in England und Belgien forderte.

Die Fotobeobachtungsstation auf Cap Blanc-Nez existierte nur noch bis September 1944. Als sich von Land her kanadische Invasionstruppen näherten, sprengte die Einheit die einmalige Fotoausrüstung in die Luft. Nur einige Fotoabzüge wurden gerettet. Heute ist an der Stelle der Fotobaracke nur noch eine flache Mulde mit Grasnarbe zu sehen.

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