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Февраль
2024

Bewegende Rede im Bundestag: Marcel Reif: "Die Aufarbeitung wird mein Lebensthema bleiben"

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Über Fußball zu sprechen fällt ihm leicht. Über die eigene, vom Holocaust gezeichnete Familiengeschichte umso weniger. Sportreporter Marcel Reif über seine bewegende Rede vor dem Deutschen Bundestag, die er in nur einer Nacht verfasste. 

Herr Reif, Sie haben mehr als vier Jahrzehnte als Reporter vor dem Mikrophon gestanden und von großen Sportveranstaltungen fürs Fernsehen berichtet. Wie war es für Sie, eine Rede vor dem Deutschen Bundestag zu halten?
Diese zehn Meter zum Rednerpult zu gehen im Bundestag, und dann in all die Gesichter zu sehen, das versammelte Parlament vor einem – das ist etwas ganz Besonderes. Da nützt dir all die Berufserfahrung nichts. Ich war sehr nervös.

Tatsächlich? Als Sportjournalist hatten Sie oftmals ein noch größeres Publikum.
Mag sein. Beim WM-Finale 1994 waren es 23 Millionen, aber solch eine Zahl ist abstrakt, wenn du kommentierst. Nicht fühlbar. Du sprichst in ein Schaumstoffbällchen rein, und das ist es dann. Zudem: Über Fußball zu reden fällt mir wesentlich leichter als über meine Familiengeschichte, die vom Holocaust gezeichnet ist. Das geht tief rein und konfrontiert einen mit Dingen, die man schon innerlich abgeheftet geglaubt hatte.

Die Geschichte Ihrer Familie ist dramatisch. Ihre Großeltern wurden von den Nazis umgebracht, Ihr Vater, ein polnischer Jude, entkam ihnen nur knapp.
Ich bin jetzt 74 Jahre alt, aber die Aufarbeitung wird mein Lebensthema bleiben. Ich dachte, im Alter wird es anders werden, aber da habe ich mich getäuscht. Der Blick auf einen selbst wird nicht milder. Ich stelle mir die Frage, was ich hätte besser machen können. Bin ich den Dingen gerecht geworden? Habe ich nicht zu viel verdrängt? Habe ich hauptsächlich das Positive in meinem Leben sehen wollen? Habe ich mich verführen lassen? An einem Tag wie gestern holen einen diese Themen wieder ein.

Moderator Marcel Reif beim Premiere World Sport "Kick-Studio" in München im August 2000
© Alexander Hassenstein

Hatten Sie sich zur Vorbereitung der Rede noch einmal näher mit Ihrer Familiengeschichte beschäftigt?
Nein, die ist mehr sehr präsent. Ich hatte ein wunderbares Verhältnis zu meinem Vater. Da bin ich im Reinen.

Wie lange haben Sie an der Rede gearbeitet?
Eine Nacht, dann war sie fertig im Kopf. Der Stoff war in mir, er musste nur noch aufs Papier gebracht werden. Ich habe den Text dann auch nicht mehr groß verändert. Hier und da einen Akzent anders gesetzt, mehr nicht.

Sie sind Vater von mittlerweile erwachsenen Söhnen. Wie haben Sie die Geschichte an sie weitergegeben?
Für mich steckt in einem Satz meines Vaters alles, was ich vermitteln wollte: Sei ein Mensch. Wenn ich heute auf meine Söhne schaue und auf meine Enkelkinder, dann kann ich sagen: Es ist mir gelungen.