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Январь
2024

Gedenken als Zielscheibe

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Wladimir Owtschinnikow, geboren 1938 in einer Familie, die Opfer des Stalin-Terrors wurde, lebt seit 1998 in Borowsk. Das Foto zeigt ihn vor dem Gefängnisschloss, dessen Mauer er bemalt hat. (Foto: Olga Silantjewa)

Wir haben 2022 mit Ihnen gesprochen. Damals sprachen Sie davon, ein Museum für Opfer politischer Verfolgung zu eröffnen. Wie sollte es aussehen?

Im Jahr 2004 stieß ich zum ersten Mal auf das Gedenkbuch der Opfer politischer Verfolgung im Gebiet Kaluga. Ich war erstaunt darüber, wie wenig Information es darin über die Menschen gab, die in der Stalinzeit erschossen, in Lager geschickt oder deportiert worden waren. Seitdem beschäftige ich mich mit diesem Thema. Bei mir hat sich sehr viel Material angesammelt. Anfangs wollte ich, dass es die Grundlage für eine Ausstellung im staatlichen oder im örtlichen Heimatmuseum bildet. Aber alle meine Versuche, eine solche Ausstellung durchzuboxen, waren nicht von Erfolg gekrönt.

Da kam mir der Zufall zu Hilfe. Eine ortsansässige Unternehmerin kaufte das Gebäude des ehemaligen Gefängnisses in Borowsk, um daraus ein Tourismusobjekt zu machen – ein Gefängnisschloss. Ich als Maler sollte es gestalten. Ich bat sie um einen Raum für mein Museum. Die Besitzerin des Schlosses war schnell einverstanden. Am Ende stellte sie mir drei Einzelzellen zur Verfügung. Ich habe mich den Bedingungen angepasst.

Seit 2023 ist das ehemalige Gefängnis, gebaut 1866, für Touristen geöffnet. (Foto: Olga Silantjewa)

An den Wänden Grafiken, 80 Porträts von politisch verfolgten Einwohnern von Borowsk. Die Ausstellung wurde durch Anschauungsmaterial vervollständigt. Zum Beispiel mit einer Karte des Kreises Borowsk mit den Zahlen der Verfolgten in jeder einzelnen der 150 Ortschaften. Über Artefakte, die in Zusammenhang mit Gefängnis und Unterdrückung standen, verfügte ich nicht. Die Porträts wollte ich mit QR-Codes ergänzen. Mit Hilfe dieser Codes konnte man Dokumente der Akte eines jeden sehen, aber auch Erinnerungen der Angehörigen und Fotografien aus dem Alltag des Porträtierten.

Das Museum im Gefängnis

Jetzt stehen wir im Museum, was aber nicht eröffnet wurde. Warum?

Was konkret passiert ist,  ist mir wirklich nicht bekannt. Die Eröffnung des Museums im Gefängnisschloss war für den 29. Oktober 2023 geplant. Das Schloss selbst wurde im Sommer für die Touristen geöffnet. Aber am 26. Oktober rief mich die Inhaberin an und sagte, sie hätte bestimmte „Signale“ erhalten. Man hatte sie offensichtlich gebeten, das Museum nicht zu eröffnen. Sie bekam Angst, dass man, das ganze Schloss schließen könnte. Die Obrigkeit möchte diese Seite der russischen Geschichte verschweigen. Das ist ein allgemeiner Trend.

Das Museum der Unterdrückung ist für Besucher nicht zugänglich. (Foto: Olga Silantjewa)

Der russische Präsident Wladimir Putin hat im Dezember während der Sitzung des Rates für die Entwicklung der Zivilgesellschaft gesagt, dass die Arbeit an der Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgung „fortgesetzt werden soll“. Warum dürfen Sie sich dann nicht damit beschäftigen?

Er sagt das Eine, aber es geschieht etwas anderes. Was ich auch in dieser Richtung in den letzten Jahren getan habe – ob ich eine Gedenkstätte oder eine Ausstellung für die Opfer politischer Verfolgung mit den Inschriften ihrer Namen durchsetzen wollte oder ob ich einen Antrag über die Rehabilitierung der Verfolgungsopfer an die Staatsanwaltschaft stellte – bei allem wurde mir eine Absage erteilt. Letztendlich ließ man mich seit 2021 nicht mehr in die Archive der Behörden.

Für Einwohner von Borowsk über Einwohner von Borowsk

Warum finden Sie, dass ein solches Museum für die Bürger und Gäste der Stadt Borowsk heutzutage notwendig ist?

Man darf nicht nur an die heute Lebenden denken, sondern muss auch die kommende Generation in Betracht ziehen. Was die heute Lebenden betrifft … Ich sammle Informationen über Opfer politischer Verfolgung in Borowsk und veröffentliche sie auf meiner Internetseite und in den sozialen Netzwerken. Und die Angehörigen wenden sich mit der Bitte um Auskunft an mich. Sie fragen, woher ich die Informationen habe, was ich noch weiß, wohin sie sich wenden können. Ich bin sozusagen das Informationszentrum für die politisch Verfolgten im Kreis Borowsk geworden.

Im Museum gibt es 80 Porträts der Opfer politischer Verfolgungen (Foto: Olga Silantjewa)

Wie viele Namen haben Sie in Ihrer Datenbank?

Ich habe sie nicht gezählt. Aber ich denke, es sind etwa 3000 Namen. Aber man muss in Betracht ziehen, dass hinter jedem Namen noch Familienmitglieder stehen – Ehemann bwz. Ehefrau, Eltern, minderjährige Kinder. Und die Familien waren damals groß. Ich habe mal ausgerechnet, dass es in jeder Familie 5,5 Kinder gab.

Dazu kommt noch, dass ich verschiedenartige Informationen über die Menschen habe. Von dem einen weiß ich nur den Vor- und Familiennamen und welche Rechte ihm abgesprochen wurden. Es gibt politisch Verfolgte, von denen ich die Unterlagen, die Erinnerungen der Angehörigen und Alltagsfotografien habe. Die Unterlagen gelang es mir zu bekommen, als man mich noch in die Archive ließ. Und ich habe nur die Anzahl der Rehabilitierten genannt. Es gibt noch unheimlich viele, die rehabilitiert werden müssen. Als ich die Akten zu sichten begann, stellte sich heraus, dass ungefähr 20 Prozent rehabilitiert worden sind. In den Jahren meiner Arbeit konnte ich die Rehabilitierung von 1391 Personen ermöglichen.

Die Rehabilitierung

Warum müssen Sie das tun? Die Angehörigen können doch selbst vor Gericht gehen.

Teilweise wissen die Nachkommen nichts über ihre verfolgten Vorfahren. Es war in unserem Land nicht üblich, über sie zu sprechen. Sie trugen das Stigma eines Volksfeindes. Es gibt noch ein anderes Problem. Wenn sich die Leute an das Archiv wenden, müssen sie Geburtsjahr und Geburtsort des Angehörigen wissen und die Verwandtschaft dokumentarisch belegen. Aber es ist nicht immer möglich, die notwendigen Bescheinigungen und Informationen zu beschaffen.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass es am schwierigsten war, die Rehabilitierung für die Einwohner des Kreises Borowsk zu erreichen, die während der Okkupation mit den Nazi-Deutschen zusammengearbeitet haben. Sie sollen auch rehabilitiert werden?

Im Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Verfolgung von 1991 steht geschrieben, wer nicht rehabilitiert werden darf. Es dürfen diejenigen nicht rehabilitiert werden, die der Zivilbevölkerung Gewalt angetan haben und Vaterlandsverräter waren. Alle anderen können.

Im Kreis Borowsk sind 152 Personen rehabilitiert worden, die der Zusammenarbeit mit den Nazis beschuldigt worden waren, 93 wurden nicht rehabilitiert. Ich habe aus den Archiven abschließende Anklageschriften sowohl für die einen als auch für die anderen erhalten. Die begangenen Taten waren gleich! Es drängt sich die Frage auf, warum der eine rehabilitiert wurde und der andere nicht. Ich durchlief viele Gerichte, war auch beim Obersten Gericht. Aber man versagte mir ihre Rehabilitierung. Die Hälfte dieser Personen waren die von den Bewohnern der besetzten Gebiete gewählten Vertreter oder Sprecher, die deren Interessen vertreten sollten. Das bedeutet, das waren würdige und verdienstvolle Menschen, die ihren Mitbürgern helfen konnten. Aber dann wurden sie alle durch die Bank wegen „Unterstützung der Okkupanten“ verurteilt.

Denken Sie, dass Ihr Museum noch eröffnet wird?

Eine Zeit lang wurden diese Räume als Lagerräume genutzt. Aber als wir jetzt mit Ihnen hier hereingekommen sind, ist alles aufgeräumt und sauber. Ich sehe darin ein Zeichen, dass sich die Zeiten noch ändern können. Bleibt uns nur, darauf zu hoffen.

Das Gespräch führte Olga Silantjewa.

Wladimir Owtschinnikow darf seine Gäste in sein Museum einladen. (Foto: Olga Silantjewa)

Запись Gedenken als Zielscheibe впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.