Gedanken des Balkonisten – Über scheinbaren "Wahlkampf" und humorlose Hypersensibilität
Eine Lesermeinung von Mikhail Balzer
Der Wahlkampf ist wieder in TV und Radio angekommen, und die Auswahl verbleibender, weil wirklich interessanter Ausstrahlungen fällt schwer. So schwer, dass sich selbst Hauskater Murr III in letzter Zeit auffallend oft vom abendlichen Fernsehprogramm abwendet, um in das zusätzliche Zimmer des überbauten Balkons zu stolzieren. Fast so, vermeint man, wie ein adliger Intellektueller sich ins freiwillige Exil begibt, wenn seine Nase den Geruch kulturellen Niederganges verspürt.
Als wären der vormalige Wahlkampf 2021, die nachfolgende schier endlose Phase der Regierungsbildung und das zähe Ringen einer sich selbst überlebt habenden Ampelkoalition nicht schlimm genug gewesen, geht nun der Wahlkampf vorzeitig in eine neuerliche Runde. Wobei es eher danach aussieht, als solle ein neuer Einheitsblock aus quasi sozialistisch gefärbten und programmatisch gleichartigen, jedoch kriegserbauten Parteien geschmiedet werden (ein Walter U. und Erich H. würden es zunächst förmlich begrüßen, wenn nicht das Fehlen "echt sozialistischer Parteien" in diesem Block mit zudem überdeutlicher militaristischer Ausrichtung zu beklagen wäre. Im Unterschied dazu waren Völkerfreundschaft und Pazifismus quasi verfassungsgebende Momente in der "originalen DDR" ab 1949).
Auf der anderen Seite beobachten wir eine sich extrem verschärfende Humorlosigkeit im politischen Diskurs, die in Massenanzeigen vormals unbescholtener Bürger und mancher nicht immer unbescholtener alternativer Journalisten gipfelt ‒ wobei der Balkonist unbedingt anmerken möchte, dass auch vielleicht etwas skandalumwitterte Mitglieder der Presse dazugehören, um eine kontroverse politische Diskussion zu befördern. Früher wurden Boulevardblätter, durchaus in gewissem Gegensatz zur Regierungslinie stehend und dabei "populistisch" dem Stammtisch-Bürger aufs Maul schauend, letztlich als eine Bereicherung des pluralistisch-demokratischen Diskurses erlebt und als solche auch verteidigt.
Eine "Bundesrepublik des Grundgesetzes" (das heißt vor der Wende) konnte derartiges problemlos aushalten beziehungsweise wurden Übergriffe seitens der Politiker auf Presse und Verlagshäuser nicht ohne weiteres geduldet. Ebenso wenig übrigens wie (peinliche) politische Fehltritte. Seinerzeit hatten die Anmaßungen eines Franz Josef Strauß gegenüber dem damals missliebigen Springerkonzern (was waren das noch für Zeiten!) noch den Rücktritt des bayerischen Politikers zur Folge. Wenn Pluralismus und verantwortungsvoller politischer Anstand heute noch in gleichem Ausmaß gelten würden, wären die Ampelträume schon vor etlichen Monaten durch Demissionierung einiger Minister ausgeträumt gewesen (man denke nur an diverse Ressorts im Inneren wie Äußeren, der Verteidigung sowie der Ökonomie; teilweise auch aufgrund von Verstrickungen in vielfältige und nicht nur herbeigeredete Skandale ‒ von denen der nicht ausgeräumte Vorwurf der Vetternwirtschaft vielleicht noch der harmloseste ist).
Aber in Zeiten, in welchen Geheimdienstchefs mal eben wegen einer sachlich korrekten Klarstellung eines Narrativs (jedoch in Konfrontation mit einer Langzeitkanzlerin) demissioniert werden, gelten nun mal andere Spielregeln: eher nach den Leitgedanken von "Monopoly". Und passt ein Verfassungsgutachten nicht so ganz in den politischen Wunsch der Auftraggeber, so wird es halt ein wenig nachgebessert. Laufen des selbständigen Denkens noch mächtige Mitarbeiter zu wenig in der vorgegebenen Spur, muss ein Behördenleiter eben mal zu deftigeren Konsequenzen greifen. Andererseits führte jedoch ein löchriges Informationsnetzwerk im Militärischen, welches hochbrisante und skandalöse Gedankengänge einiger Armeeoberen offenbart hatte, keineswegs zu personellen Konsequenzen ("Taurus Leak"). Hieran hätte die ohnehin rar gewordene Gattung des demokratisch "mündigen Bürgers" doch messerscharf erkennen können, wie sehr zwischenzeitlich die Spielregeln geändert worden waren. Ist womöglich sogar eine fest an kriegsbeflissene NA*Toren gebundene "DäDäErr 2030" als Agenda bereits eröffnet worden? (oder, wie böswillige Zungen behaupten, schon vor einiger Zeit von langer Hand eingeleitet worden ‒ damals noch in der Reglementierungsverantwortung einer allzu langen Kanzler*In?)
Fragen über Fragen, doch welches Maß soll man hier anlegen? Ein Blick in die Geschichte hilft bisweilen, die geeignete Eichwaage zu finden zur Bewertung der heutigen Vorgänge und auch um kritischer die weitgehend gleichgeschalteten Einheitsmedien zu betrachten. Doch auch um die justizielle Waage scheint es leider nicht immer zum Besten bestellt, zumal dort immer noch ein Top-down-Prinzip bei der Besetzung der höchsten Posten vorherrscht, sprich: Ohne das geeignete Parteibuch und eine stromlinienförmige (oder auch: gar keine) Meinung kommt man kaum in den Genuss ebensolcher Posten, unabhängig von der eigentlichen justizianischen Qualifikation.
Auf der anderen Seite offenbart das bereits oben skizzierte Verhalten vermeintlich "führender Politiker" eine eigenartige Hypersensibilität und Dünnhäutigkeit, die so gar nicht zum heftigen verbalen Austeilen (speziell gegenüber einer großen Oppositionspartei) passen will. Fühlt man sich von (auch heftigeren) satirischen Meinungsäußerungen der Untertanen auf sozialen Netzwerken angegriffen, so beschäftigt man (und Frau) sogleich ein Heer bissiger Rechtsanwälte, um jene pöööhsen "Kritiker und Verschwägerungstheoretiker" zur Rechenschaft zu ziehen ‒ und dies koste es, was es wolle (und selbst bezahlen muss man dies meistens nicht). Aber wie steht es da um das Selbstwertgefühl und womöglich auch um das moralische Gewissen der Klagenden?
Anders war da ein Helmut Kohl, im Übrigen auch "Langzeitkanzler" gewesen, der selbst eine Vielzahl böse spottender "Kohlwitze" mit pfälzischer Gelassenheit ertragen konnte. Nun ja, er war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen oder ließ sich dieses nicht anmerken, zumal dies seinerzeit noch als ein Zeichen der Schwäche gegolten hätte!
Doch spiegelt sich diese Hypersensibilität einer politischen Elite nicht auch in der "ängstlichen Nervosität" einer ganzen Gesellschaft, oder gar einer Vielzahl europäischer Gesellschaften wider? Haben wir nicht derzeit ein Heer (auch medialer) Narzissten, die auf eine noch so kleine Kränkung völlig überschießend reagieren, um nicht zu sagen, dass "sie geradezu explodieren"? Wichtiger noch als diese Gesamtbetrachtung wäre nun die Frage nach dem Woher und Warum dieser auffälligen Entwicklung in der heutigen, sich selbst als freiheitlich-demokratisch bezeichnenden Gesellschaft. Hierzu wiederum müssen Balkonist und Kater Murr III zugeben, dass man berufenere Leute aus dem Kreise der Psychologen und Soziologen befragen müsste...
Um es sogleich vorwegzunehmen: Kater Murr III hat sich gerade zum besonnenen Ausruhen auf einem Artikel von Dr. Maaz niedergelassen... Und, oh Wunder, der Autor zitiert, quasi unter des Katers Pfote liegend, Goethe:
"Man muss das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist."
(Anmerkung von Murr III: Der geneigte Leser möchte beachten, dass es sich hier um eine überspitzte satirische Meinungsäußerung überwiegend des Balkonisten und meiner Wenigkeit handelt, die keinerlei oder gar nur zufällige Bezüge zu einem "Besten Land aller Zeiten" bietet. Es finden sich leider auch einige unerfindliche Neologismen des Balkonisten, die den Lesegenuss wohl erschweren. Als einzig wahr und zeitlos hingegen darf man das obige authentische Zitat Goethes betrachten).
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