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Октябрь
2024

„Dumm und unmoralisch“: Wie Tolstoi den Patriotismus verdammte

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Französisch-russisches Bankett im Pariser Rathaus am 19. Oktober 1893 in einer zeitgenössischen Darstellung des deutsch-französischen Malers Féodor Hoffbauer. Die Feierlichkeiten begannen mit dem Eintreffen eines russischen Marinegeschwaders in der Hafenstadt Toulon. Zwei Jahre zuvor hatte ein französisches Geschwader Kronstadt besucht. Die Begeisterung auf den Straßen und in der Presse war jeweils groß. Doch Lew Tolstoi fand sie falsch, künstlich und sah darin einen Vorboten neuer Kriege. (Foto: Paris Musées/Wikimedia Commons)

Vor etwa vier Jahren stattete die erste Schwalbe dieses Touloner Frühlings uns auf dem Lande einen Besuch ab. Es war ein wohlbekannter französischer Agitator für einen Krieg mit Deutschland und er kam nach Russland, um einer französisch-russischen Allianz den Weg zu bahnen. Er kam gerade, als wir dabei waren, die Heuernte einzufahren, und als wir beim Frühstück die Bekanntschaft unseres Gastes gemacht hatten, begann er sofort von seinen Feldzügen, seiner Gefangennahme und seiner Flucht zu erzählen; auch dass er geschworen hatte, nie aufzuhören, für einen Krieg mit Deutschland zu werben, bis der Ruhm und die Grenze Frankreichs wiederhergestellt sei. Auf diesen Schwur schien er sehr stolz zu sein.

Alle Argumente unseres Gastes in Bezug auf die Notwendigkeit eines Bündnisses Frankreichs mit Russland, um die frühere Grenze, Macht und Glorie Frankreichs wiederherzustellen und uns vor den bösen Absichten Deutschlands zu schützen, hatten in unserem Kreis keinen Erfolg. Frankreich, behauptete er, könne nie ruhen, bis es seine verlorenen Provinzen zurückerobert hätte. Wir antworteten, dass […], wenn die Revanche Frankreichs Erfolg hätte, sich Deutschland rächen müsste und so bis ins Unendliche.

Er meinte nun, dass es die Pflicht Frankreichs sei, seine ihm entrissenen Söhne zurückzuholen; darauf antworteten wir, dass sich für die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung Elsass-Lothringens unter der Herrschaft Deutschlands […] nichts zum Schlimmeren verändert habe. Die Tatsache aber, dass einige Elsässer als Franzosen und nicht als Deutsche registriert zu werden wünschen […], sei kein Grund, das furchtbare Unheil zu erneuern, das ein Krieg verursachen würde, ja nicht einmal ein einziges Menschenleben zu opfern. […]

In Widerspruch zum Christentum

Vom christlichen Standpunkt aber könne ein Krieg nie gutgeheißen werden, da der Krieg das Morden verlangt, während doch das Christentum nicht nur das Töten verbietet, sondern von uns die Besserung aller Menschen verlangt, da es alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, als Brüder betrachtet. Eine christliche Nation, die sich zu einem Krieg anschickt, sollte, sagten wir, der Logik nach nicht nur das Kreuz von ihren Kirchtürmen abnehmen […), sondern sie sollte auch alle Ergebnisse der Moral aufgeben, die dem christlichen Gesetz entspringen. […]

„Aber Frankreich sind zwei Provinzen entrissen – einer Mutter sind ihre Kinder geraubt worden. Russland kann Deutschland nicht erlauben, ihm Gesetze vorzuschreiben und es seiner historischen Mission im Osten zu berauben oder wie Frankreich Gefahr laufen, seine baltischen Provinzen, Polen oder den Kaukasus zu verlieren. Deutschland will nichts von dem Verlust der Vorteile hören, die mit solchen Opfern erkauft wurden, und England wird niemandem seine Suprematie zur See überlassen.“

Dem Volk ist Patriotismus fremd

Nach solchen Worten wird gewöhnlich angenommen, dass der Franzose, Russe, Deutsche oder Engländer bereit ist, alles zu opfern, um die verlorenen Provinzen zurückzugewinnen, den Einfluss im Osten zu festigen, die nationale Einheit zu sichern und die Beherrschung der Meere zu wahren. Man nimmt an, dass der Patriotismus erstens ein allen Menschen natürliches, zweitens ein so hohes moralisches Gefühl ist, dass er allen eingeflößt werden sollte, die ihn nicht besitzen.

Aber weder das eine noch das andere ist wahr. Ich habe ein halbes Jahrhundert unter dem russischen Volk gelebt und während dieser Zeit in der großen Masse der arbeitenden Klasse kein einziges Mal eine Manifestation oder einen Ausdruck dieses patriotischen Gefühls gesehen oder gehört, wenn man von patriotischen Phrasen absieht, die aus Büchern oder in der Armee auswendig gelernt und vom oberflächlichen und verdorbenen Teil der Bevölkerung nachgeplappert werden. Ich habe vom Volk niemals einen Ausdruck des Patriotismus gehört, im Gegenteil sehr oft Ausdrücke von Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung für jede Art von Patriotismus, und zwar von den ehrwürdigsten und ernstesten Arbeitern. Dieselbe Beobachtung habe ich bei der arbeitenden Klasse anderer Nationen gemacht und die Bestätigung derselben von gebildeten Franzosen, Deutschen und Engländern erhalten. […]

Ein deutsches Lied als universelle Formel

Wenn es manchmal, so wie neulich in Paris, geschieht, dass der Patriotismus auch die Massen ergreift, so rührt das nur davon her, dass diese einem besonderen hypnotischen Einfluss der Regierung und der herrschenden Klassen erliegen. Ein solcher Patriotismus dauert nur so lange, wie der Einfluss währt. So wird zum Beispiel in Russland der Patriotismus in Form von Liebe und Anhänglichkeit an die Religion, den Zaren und das Vaterland mit außerordentlicher Energie und allen Mitteln der Regierung – der Kirche, Schule, Literatur und aller Art von pompösen Zeremonien – dem Volk eingeflößt. […]

Worin besteht aber dieses erhabene Gefühl, das nach Ansicht der herrschenden Klassen dem Volke anerzogen werden soll? Es ist das Vorziehen des eigenen Landes oder der eigenen Nation vor allen anderen, ein Gefühl, das seinen vollsten Ausdruck in dem deutschen Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ findet. Man braucht nur die zwei ersten Worte mit Russland, Italien oder dem Namen eines anderen Landes zu vertauschen und man hat die Formel für das erhabene Gefühl des Patriotismus gefunden.

Es ist ja ganz gut möglich, dass ein solches Gefühl sowohl für die Regierung erwünscht und nützlich wie für die Erhaltung des Staates notwendig ist, aber man muss einsehen, dass dieses Gefühl nicht ein erhabenes, sondern ein dummes und unmoralisches ist. Dumm, denn wenn jedes Land sich allen anderen überlegen wähnen wollte, müssten alle Länder bis auf eines im Irrtum sein, und unmoralisch, weil es alle, die es besitzen, dahin führt, ihr Land und ihre Nation auf Kosten jeder anderen zu übervorteilen – eine Neigung, die in vollkommenem Widerspruch zu dem von allen anerkannten moralischen Grundsatz „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu“ steht.

Keine Tugend, sondern ein Laster

Der Patriotismus mag in der alten Welt, wo er den Menschen bewog, dem höchsten Ideal seiner Zeit, dem Vaterland, zu dienen, eine Tugend gewesen sein. Wie aber kann der Patriotismus heutzutage eine Tugend sein, wo er von den Menschen ein unserer Religion und Moral gerade entgegengesetztes Ideal, nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern die Vorherrschaft einer Nation über alle anderen fordert? Dieses Gefühl ist nicht nur keine Tugend, sondern unzweifelhaft ein Laster. […]

Der Patriotismus ist heute die grausame Tradition einer überlebten Epoche, die nicht nur kraft des Beharrungsvermögens besteht, sondern auch, weil die Regierungen und leitenden Klassen […] sie beharrlich durch List und Gewalt im Volk erzeugen und erhalten. […] Seit langer Zeit schon gab und konnte es keinen Grund zur Uneinigkeit zwischen christlichen Nationen geben. Man kann sich sogar unmöglich vorstellen, warum russische und deutsche Arbeiter, die an den Grenzen oder in den Hauptstädten wohnen und gemeinschaftlich arbeiten, miteinander streiten sollten. Noch weniger kann man sich Feindseligkeit vorstellen zwischen einem Bauern aus Kasan, der die Deutschen mit Weizen versorgt, und einem Deutschen, der ihn mit Sensen und landwirtschaftlichen Maschinen beliefert. […]

Der Patriotismus in seiner einfachsten, klarsten und unzweifelhaftesten Bedeutung ist nichts anderes als ein Mittel der Herrschenden, ihren Ehrgeiz und ihre Wünsche zu befriedigen. Für die Beherrschten bedeutet er den Verzicht auf menschliche Würde, Vernunft und Bewusstsein, bedeutet die sklavische Unterjochung durch die Machthaber. So ist der Patriotismus überall beschaffen, wo er gepredigt wird. Patriotismus ist Sklaverei. […]

Die Macht des freien Gedankens

Oh wenn die Menschen nur glauben wollten, dass die Stärke nicht in der Gewalt, sondern in der Wahrheit liegt, wenn sie nicht in Wort und Tat davor zurückschreckten, wenn sie nicht sagen würden, was sie nicht denken und fühlen, wenn sie nicht täten, was sie selbst als töricht und unrecht erkennen! […]

Die Regierungen wissen das und sie zittern vor dieser Macht; auf alle mögliche Weise bemühen sie sich, ihr entgegen zu handeln oder in ihren Besitz zu gelangen. Sie wissen, dass die Stärke nicht in der physischen Gewalt, sondern im Gedanken und dessen klarem Ausdruck liegt; daher fürchten sie sich vor dem Ausdruck des unabhängigen Gedankens mehr als vor einer Armee, und aus diesem Grund setzen sie die Zensur ein, bestechen sie die Presse und monopolisieren die Kontrolle über Kirche und Schule. Aber die geistige Kraft, die die Welt bewegt, entgeht ihnen; sie befindet sich weder in Büchern noch in Zeitungen, sie kann nicht eingesperrt werden, sie ist immer frei, denn sie besteht in der Tiefe des menschlichen Bewusstseins. […]

Mögen die Regierungen die Schulen, die Kirchen, die Presse, ihre Milliarden von Geld und Millionen von in Maschinen verwandelten Menschen behalten: Diese scheinbar so furchtbare Organisation brutaler Gewalt ist nichts im Vergleich zum Bewusstsein der Wahrheit, das in der Seele eines Einzelnen aufsteigt, der die Macht der Wahrheit erkennt, der sie einem Zweiten und Dritten mitteilt, wie eine Kerze zahllose andere entzündet. Das Licht braucht nur angezündet zu werden, und wie Wachs vor dem Feuer wird diese scheinbar so mächtige Organisation dahinschmelzen und vergehen.

Запись „Dumm und unmoralisch“: Wie Tolstoi den Patriotismus verdammte впервые появилась Moskauer Deutsche Zeitung.