M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier: Alles muss raus
Das Gegengift zu unserer Wutgesellschaft findet unser Kolumnist ausgerechnet an den Orten, die er einst mit Spott überzogen hat.
Oktoberfest. Wie häufig wäre ich versucht gewesen, dieses Volksfest mit Spott zu überziehen. Größtes Urinal Europas. Stadtwette, wie schnell eine Bevölkerung die Theresienwiese vollgekotzt kriegt. Mal sehen, wie viele arglose Influencer Promifliegenfalle Kai Pflaume dieses Mal ins Käferzelt gelockt kriegt. Sowas eben.
Aber mir sind die Hämedrüsen ausgetrocknet. Beim Gedanken daran, wie sich eine komplette Stadt aufmacht, um gemeinsam zu feiern, fehlt mir die Lust, mich an dem Primitiven daran aufzuhalten. Die kollektive Ausgelassenheit rührt mich. Ja, sicher, es ist ein durchkommerzialisierter Wahnsinn. Schlussendlich aber treffen dort Menschen aufeinander mit dem festen Ansinnen, sich aneinander zu erfreuen, zu singen, zu tanzen und ja: mehr zu trinken, als gut für sie wäre. kurzbio beisenherz
Als ich im Sommer in Sorrent erlebt habe, wie sich das ganze Fischerdorf aufgemacht hat, jung und alt, um der heiligen Anna zu huldigen, da kam es mir vor, als hätte ich gerade das Gegengift zu unserer erodierenden Gesellschaft entdeckt. Dabei ist es so simpel. Begegnung. Gemeinschaft. Wie schön war es, während der Europameisterschaft auf Fremde zu treffen, mit ihnen gemeinsam Spiele zu schauen. Währenddessen verschiedene Lebenshintergründe kennenzulernen, möglicherweise die ein oder andere weltanschauliche Inkongruenz wahrzunehmen, aber: Wurscht! Wir sind gemeinsam hier. Du bist mir sympathisch, und ob du jetzt die Grünen scheiße findest oder Söder für kanzlerfähig hältst, das ist erst einmal egal. Man redet, man winkt ab und versteht sich trotz diverser Differenzen.
Kein Gespräch wird im Analogen so hartleibig geführt wie im Digitalen, wo die Radikalisierungsanreize der Algorithmen dazu verführen, die eigene Meinung zu karbonisieren und das Gegenüber schon in der zweiten Kommentarspalte als Ahnungsloser Idiot bzw. Staatsfeind abzuhaken. Die Affektschmiede Internet als Konjunkturprogramm für ideologische Verkrustungen. So hängen wir doch längst alle argumentativ völlig in den Seilen und heben reflexhaft die müden Armen, sobald sich ein Fremder unseren geschwollenen Augen nähert.
Der Barbier von Micky Beisenherz
Doch abseits der Empörungsmolkerei Social Media gibt es noch ein Leben. Wie schnell bauen sich Vorurteile ab. Stolpert man völlig verunsichert durch Kommentarspalten, so könnte man über die Grenzschließungsdiskussionsorgien der vergangenen Wochen auf den Gedanken kommen, dass Afghanen statt der Rassel schon das Klappmesser in die Wiege gelegt bekämen. Bin ich beim Friseur und unterhalte mich mit meinem kultivierten Barbier, der als jugendlicher Syrer 2015 nach Deutschland gekommen ist, wird mir schnell wieder bewusst, dass jede Obergrenzendebatte über Menschen und Herkünfte befindet. Deshalb können einen Statistiken immer noch besorgen, aber erweiterte Denkräume führen dazu, dass man auf so manche stumpfe Debatte, vor allem solche, die im Darkroom X geführt werden, nicht mehr reinfällt.
War der Stammtisch lange das Wahrzeichen für den kommunikativen Hinterwald, so erscheint er mit nach zehn Jahren Social Media fast als die Lösung aller Probleme: Wenngleich oft zunächst mal ein Haufen Leute mit einer ähnlichen Perspektive dort sitzt, besteht zumindest die Chance, dass sich bald neue Meinungen dazu gesellen, die von Angesicht zu Angesicht besprochen und nicht gebrüllt werden. Soll unsere Demokratie nicht den Bach runter gehen, brauchen wir mehr Dorffeste, Feuerwehrjubiläen, mehr Vereinswesen, Kneipen und Kulturzentren. Brauchtümer, die ich früher postpubertär verachtet habe, finde ich heute fast demokratiestärkend.
Letzte Woche, wir standen wegen eines Böschungsbrandes mal wieder mit der Bahn irgendwo in der Einöde zwischen Osnabrück und Hamburg, unterhielten sich drei Männer Ende 40 in der Reihe hinter mir gleichermaßen anregt wie rheinländisch über Dinge wie "Männertanzgruppe", "Dreigestirn" und "Ablegestelle". Fremde Klänge. Mysteriöse Wortfetzen. Nicht nur für mich, auch für ein freundliches Ehepaar um die 70. Er, Typ Gastrokritiker, fragte mit hanseatischem Idiom: "Sagen Sie, Sie müssen mir kurz helfen. Ich höre diverse Wortfetzen, die ich mir nicht zusammenreimen kann. Was genau sind Sie?" Es stellte sich heraus, dass die Männer von der Karnevalsgesellschaft Dormagener Jungs kamen und mit der Bahn auf dem Weg nach Kiel zur viertägigen Karneval-Kreuzfahrt waren. Man unterhielt sich angeregt, verteilte Schnaps und es kam sogar zu gemeinsamen Fotos mit Karnevalsmütze. Rührende Szenen menschlicher Zugewandtheit, wo im digitalen Raum kaum mehr als eine kurze Verächtlichmachung drin gewesen wäre.
Ja, jeder Mensch ist anders. Nein, halt: Jeder Mensch ist auch anders. Aber eben nicht nur. Dass das Gegenüber auf manche Dinge unterschiedlich schaut, ist in der direkten Begegnung eine nicht immer angenehme Tatsache. Wir lernen im Miteinander aber, dass das halt nicht alles ist, was ihn ausmacht.
Zoom-Meetingkacheln wurden zu Gefängnisfenstern
Wie viele Verhärtungen ließen sich im direkten Miteinander verbal rausmassieren. Die Möglichkeit, dass das Gegenüber dich gar nicht kastrieren will. Wir sind nicht: Wir gegen die! Ich erinnere mich gerne an eine Feier, die ich vor Jahren auf dem Dorf in Sachsen-Anhalt besucht habe. Herrlicher Abend, tolle Leute. Wochen später stellt sich raus: 70 Prozent der Leute da waren Impfgegner und Corona-Skeptiker. Hätte ich nur von denen gelesen, wären sie mir wohl – typisch Ossis! – wie eine gruselige Schwurblerkommune vorgekommen. So aber erinnere ich mich gerne an diese netten Menschen, die in manchen Punkten wohl etwas anders ticken.STERN PAID Gehirnentwicklung Pandemie 9:50
Apropos Corona: Es ist kein Zufall, dass mit den virologisch durchaus gebotenen, aber soziologisch verheerenden Kontaktbeschränkungen der Vereinsamungsturbo gezündet und einem intensiven Miteinander endgültig der Rest gegeben wurde. So wurden Zoom-Meetingkacheln zu Gefängnisfenstern, Kommentarspalten zu Schießscharten. Der Bürgerkrieg ist eine Erfindung des Algorithmus – die Welt da draußen sieht gottlob anders aus.
Vor ein paar Tagen besuchte meine Mama eine Beerdigung, bei der ihr inmitten kollektiver Trauer ein Bekannter jovial wackelnd gegenübertrat: "Mensch, jetzt sind wir doch schon seit 50 Jahren Nachbarn, da können wir uns doch auch mal duzen, oder?"
Da draußen, jenseits der Einsen und Nullen führen einen sogar noch die Toten zusammen. Während bei Twitter und Co jede Gemeinschaft erstirbt.
Alles muss raus.