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Август
2024

Terror von Solingen: "Die Turboradikalisierung wird unterschätzt"

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Wie konnte es zum Terror von Solingen kommen? Und was muss nun politisch folgen? Ein Gespräch mit der Grünen-Innenpolitikerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. Drei Tote, sechs Schwerverletzte: Das ist die verheerende Bilanz des Anschlags von Solingen. Nach der Messerattacke auf einem Stadtfest beginnt die Diskussion über die politischen Folgen. Wie hat sich der Täter radikalisiert? Hätte die Tat verhindert werden können? Und was sollte die Politik jetzt tun? Ein Gespräch mit der Grünen-Innenpolitikerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. t-online: Frau Kaddor, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von der Tat in Solingen hörten? Lamya Kaddor: Ich war tief betroffen. Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, auf ein Stadtfest zu gehen und plötzlich kommt jemand von hinten und sticht zu. Es ist grauenvoll. Ich fühle mit den Opfern und den Angehörigen der Toten. Dringend tatverdächtig ist ein 26 Jahre alter Mann, ein sunnitischer Muslim, geboren im Osten Syriens, Ende 2022 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Er war offenbar bisher nicht als Extremist bekannt. Wissen die Behörden noch immer zu wenig über die Menschen, die zu uns kommen? Zumindest muss man die Frage stellen, ob dieser Mann schon bei seiner Einreise islamistisches Gedankengut mitgebracht hat. Das müssen jetzt die Ermittlungen ergeben. Es gibt aber ein paar Dinge, die für mich auf eine Einzelradikalisierung hinweisen und gegen einen klassischen Schläfer sprechen, der im Ausland ausgebildet wurde und auf Kommando einen Anschlag verübt hat. Welche Anhaltspunkte sind das? Der Tatverlauf spricht nicht dafür, dass alles von langer Hand geplant war. Ein typischer Schläfer flüchtet eigentlich nicht ziellos vom Tatort, wirft das Messer weg, also das Beweismittel, und stellt sich dann nach 24 Stunden doch der Polizei. Sie sind Islamwissenschaftlerin und haben als Lehrerin in Nordrhein-Westfalen auch mit Jugendlichen gearbeitet, die sich nach ihrer Schulzeit radikalisierten. Wie stark ist die islamistisch-dschihadistische Szene in Solingen? In Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus gibt es nach wie vor islamistische Netzwerke, die weiter sehr fleißig arbeiten und radikalisieren. Darauf weisen meine Partei und ich seit Jahren unermüdlich hin. Die Radikalisierung passiert nicht mehr so stark über die sogenannten Hinterhofmoscheen oder Gemeindezentren. Sondern im Privaten. Abseits der einschlägig bekannten radikalen Moscheegemeinden würde ich sogar sagen, dass inzwischen mehr Moscheegemeinden für die Gefahren des Islamismus sensibilisiert sind. Wo hakt es dann? Was noch überhaupt nicht gut funktioniert, ist der Kampf gegen die sogenannte Turboradikalisierung. Die geht im Internet mit Telegram, TikTok und anderen Netzwerken schneller, als sich das viele auch nur ansatzweise vorstellen können. Knapp zwei Jahre lebte der Tatverdächtige von Solingen in Deutschland. Wir wissen noch nicht genug über den konkreten Fall. Aber sich in zwei Jahren online zu radikalisieren, ist problemlos möglich, das wissen wir aus anderen Fällen. Und zwar inklusive der nötigen Instruktionen, wie man möglichst viel Schaden anrichten kann. Heute kann man im Netz problemlos lernen, eine Bombe zu bauen. Die Bedeutung der Turboradikalisierung wird noch immer unterschätzt, auch in der Politik. Das müssen wir stärker ins Auge fassen. Die Terrormiliz IS schreibt in der Nachricht, mit der sie die Tat für sich reklamiert, sie sei "Rache für Muslime in Palästina und anderswo". Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt für die islamistische Mobilisierung hierzulande? Eine sehr große. Ich würde sagen, es ist derzeit das Hauptpropagandamittel des IS und vieler anderer islamistischer Gruppen. Bis vor Kurzem war es ja vor allem der Krieg in Syrien , der genutzt wurde, um Menschen für den sogenannten Dschihad zu mobilisieren. Das hat lange gut funktioniert. Jetzt hat der Krieg im Nahen Osten diese Funktion übernommen. Erneut, muss man sagen: Denn Nahost war vor dem Syrienkrieg schon der Konflikt, den Islamisten gerne genutzt haben: die "Befreiung Jerusalems" oder die "Befreiung Palästinas" ist in dieser Ideologie ein klassisches Motiv, mit dem sie sich gern auf den Islam berufen. Und seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober ist es zurück? Genau. Diese Dynamik sehen wir ja leider bei vielen Muslimen, längst nicht nur im gewaltbereiten, dschihadistischen Spektrum. Das moralische Motiv, "Palästina zu befreien", funktioniert nicht nur bei Islamisten, sondern ist leider anschlussfähig in einem muslimischen Milieu der Mitte. Das hat natürlich auch viel mit der Anschlussfähigkeit von Antisemitismus in breiten muslimischen Milieus zu tun. Es ist also realistisch, dass das auch den Täter von Solingen motiviert hat? Wir wissen über seine Motive noch zu wenig. Er hat sich ja auch selbst noch nicht auf den IS bezogen. Reichte die Ideologie als Motivation aus? Gab es weitere Push-Faktoren, die seine Tat ausgelöst haben? Hat er traumatische Gewalterfahrungen in Syrien gemacht? Hat er in Deutschland prekär gelebt? All das kann eine Rolle spielen, wenn latente Ideologie zu konkreter Gewalt wird. Klar ist: Der IS ist noch immer brandgefährlich, auch für Deutschland. Der Mann soll zwischenzeitlich untergetaucht sein und sich so einer Abschiebung nach Bulgarien entzogen haben, von wo aus er nach Deutschland eingereist war. Erst dann erhielt er den subsidiären Schutzstatus. Müssen Abschiebungen konsequenter durchgesetzt werden, auch wieder nach Syrien? Wir müssen erst die konkreten Hintergründe der Tat vollständig kennen und daraus politische Schlüsse ziehen. Die Lösungen müssen aber nicht nur kurzfristige Wirkung entfalten, sondern es braucht vor allem auch mittel- und langfristige Lösungen. Letztere dürften uns viel Geld kosten, denn es braucht bessere Strukturen, zum Beispiel bei der Prävention. Hat die Politik die islamistische Bedrohung in den vergangenen Jahren nicht mehr ernst genug genommen? Auf keinen Fall. Ich glaube eher, dass es eine allgemeine Überforderung gibt. Es gibt eine Gleichzeitigkeit von Bedrohungen ganz unterschiedlicher Natur: den Islamismus, aber auch den Rechtsextremismus und jede andere Form von Extremismus. Der Antisemitismus hat zugenommen und gleichzeitig auch die Islamfeindlichkeit. Hinzu kommen die internationalen Bedrohungen. All das muss man politisch zusammenkriegen und nüchtern betrachten. Man muss alles bekämpfen, ohne beispielsweise beim Kampf gegen Islamismus den Hass gegen Muslime zu schüren. Das ist im konkreten politischen Handeln hoch kompliziert. Die Tatwaffe in Solingen war wieder ein Messer. Wie ist es zu erklären, dass es als Tatwaffe bei Dschihadisten offenbar an Bedeutung gewonnen hat? Ich glaube, da kommen mehrere Faktoren zusammen. Auch die Extremisten haben mitbekommen, dass die Behörden in letzter Zeit Schusswaffenbesitz bei Privatpersonen noch mal strenger beobachten und überprüfen. Seit wir nämlich nach den Reichsbürger-Razzien zu Recht über Verschärfungen des Waffenrechts sprechen. Das wirkt abschreckend. Und dann sucht man sich eben eine andere Waffe. Das Messer liegt da sehr nahe, weil jeder ein Messer zu Hause hat. Und man braucht bei gezielten Angriffen keine Klingenlänge von zwanzig Zentimetern, da reichen auch sechs Zentimeter. Hinzu kommt, dass zumindest viele Syrer durch den Bürgerkrieg exzessive Gewalt gewohnt sind. Damit sinkt die Hemmschwelle, selbst solche brutale, unmittelbare Gewalt anzuwenden. Ist das diskutierte Messerverbot nun noch einmal dringender geworden? Ja, ich kann dem viel abgewinnen. Wir sollten Messer im öffentlichen Raum und auf Großveranstaltungen verbieten. Das könnte ein Weg sein, auch das Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Reicht das aus? Natürlich nicht. Wir müssen generell darüber reden, wie wir öffentliche Veranstaltungen besser absichern können. Ohne sie zu Hochsicherheitszonen machen zu müssen. Zu unserem Selbstverständnis als liberale Gesellschaft gehört es, genau solche Stadtfeste wie in Solingen ohne großes Polizeiaufgebot abhalten zu können. Das ist eine riesige Errungenschaft, die man nicht völlig abschaffen sollte. Aber es braucht jetzt einen realistischen Blick auf unsere Gesellschaft. Und wir haben es leider mit sehr vielen gewaltbereiten Extremisten unterschiedlicher Couleur zu tun. Brauchen die Sicherheitsbehörden dafür mehr Befugnisse? Die Ampelkoalition diskutiert gerade wieder über die Vorratsdatenspeicherung. Ich halte das Quick-Freeze-Verfahren tatsächlich für das bessere Instrument. Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung birgt immer die Gefahr, dass tausendfach Daten unbescholtener Bürger gespeichert werden. Das muss man sehr genau mit den Bürgerrechten abwägen. Und ehrlich gesagt: Gerade im Kampf gegen den Islamismus sind unsere Behörden sehr gut vernetzt. Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum des Bundes und der Länder tut den ganzen Tag nichts anderes. Woran hapert es dann noch? Wir müssen darüber reden, ob wir in der Prävention gut genug aufgestellt sind. Erreichen wir junge Muslime und Andersglaubende gut genug? Erkennen wir Radikalisierung früh genug? Ich befürchte: Nein. Sowohl was das Fachwissen in den Schulen angeht als auch bei der Radikalisierung im Netz. Auch liberale Muslime und die konservativ geprägten muslimischen Verbände müssen sich noch stärker damit auseinandersetzen und Strategien entwickeln, Radikalisierung zu verhindern. Da sind mir viele organisierte Muslime zu still. Es gibt aber zugleich etwas, das wir gar nicht gebrauchen können. Und zwar? Einen Generalverdacht gegen Muslime und damit eine weitere Polarisierung der Gesellschaft. Davon wird das Netz derzeit nämlich wieder geflutet – und zwar nicht nur von den Extremisten. Ja, Islamismus hat natürlich etwas mit dem Islam zu tun. Aber Islamismus bedroht auch muslimisches Leben. Extremisten wollen die moderne, liberale Gesellschaft spalten und die Menschen gegeneinander aufhetzen. Das dürfen wir nicht zulassen. Frau Kaddor, vielen Dank für das Gespräch.