Dieter Baumann: So schrieb der "weiße Kenianer" 1992 bei Olympia Geschichte
Olympia 1992 machte Dieter Baumann zum Star. Aus einer schier ausweglosen Situation sprintete er über 5.000 Meter beinahe surreal leichtfüßig zu Gold – und drehte danach ordentlich auf. "Das war fast Körperverletzung für die Zuschauer" – wenn ein Olympiasieger kurz nach Überqueren der Ziellinie so begrüßt wird, muss sich wahrlich Aufsehenerregendes ereignet haben. So geschehen am 8. August 1992 im Olympiastadion von Barcelona. Denn was 5.000-Meter-Läufer Dieter Baumann ab 20.40 Uhr in der zum Bersten gefüllten Arena auf dem Berg Montjuïc ablieferte, ist bis heute im deutschen Sport außergewöhnlich. So lief Baumann zu Gold Woher ich das so genau weiß? Weil ich dabei war. Als gerade Zehnjähriger. Neben meinem Vater auf der Tribüne sitzend. Und was sich unten auf der roten Tartanbahn ereignete, wird mir wohl bis an mein Lebensende in Erinnerung bleiben. Der 1992 bis dahin ungeschlagene Baumann, ein hagerer, etwas kauziger Typ mit schwäbischem Zungenschlag, hält sich in einem mit internationalen Topstars bestückten Feld lange Zeit souverän. Alles sieht danach aus, als ob das Lauftalent von der Schwäbischen Alb seinem großen Ziel – der olympischen Goldmedaille – Stück für Stück näherkommt. Denn im Schlussspurt kann dem 27-Jährigen fast kein Konkurrent das Wasser reichen. Eine Sensation wäre ein Sieg dennoch: Erstens hat bis dato noch nie ein deutscher Läufer Gold über diese Strecke geholt und zweitens dominieren dort seit Jahren die starken afrikanischen Läufer – allen voran die aus Kenia. Nur Baumann funkt ihnen regelmäßig dazwischen, weshalb er anerkennend "der weiße Kenianer" genannt wird. Auf der letzten Runde verändert sich die Rennkonstellation in Barcelona für Baumann schlagartig: Es bildet sich eine fünfköpfige Spitzengruppe, in der er plötzlich eingeklemmt wird. Statt mit seinen raumgreifenden Schritten am führenden Kenianer Paul Bitok dranzubleiben, hängt der Deutsche auf der Innenbahn fest und muss einen Konkurrenten nach dem anderen vorbeiziehen lassen. Etwa 180 Meter vor der Ziellinie ist der Silbermedaillengewinner der vorangegangenen Spiele in Seoul abgeschlagen und Letzter der Spitzengruppe – und der erhoffte Olympiasieg in weiter Ferne. Doch was dann passiert, ist deutsche Sportgeschichte: Aus schier auswegloser Situation schiebt sich Baumann mit langen, raumgreifenden Schritten wieder heran, zieht auf der Innenbahn gar an mehreren Konkurrenten vorbei. Auf der Tribüne trauen mein Vater und ich unseren Augen kaum und ich vergesse vor lauter Anspannung sogar, meine mit Wasserfarbe gemalte Deutschland-Flagge zu schwenken. Der Baumann wird doch nicht etwa … Weltbekanntes Symbol: Das bedeuten die olympischen Ringe Plötzlich tut sich zwischen dem führenden Bitok und dem Äthiopier Fita Bayissa eine Lücke auf. Baumann stößt in diese hinein, zieht nach außen, schiebt sich immer näher an den sich hektisch umschauenden Bitko heran – und überholt den lange wie der sichere Sieger wirkenden Kenianer auf den letzten Metern. Auf der Tribüne schauen wir uns ungläubig an: Ist das da unten gerade wirklich passiert? Kann das wahr sein? Dann bestätigt die Anzeigentafel: Dieter Baumann ist Olympiasieger. Der 1,78 Meter große Schwabe streckt die Arme gen Abendhimmel, reißt den Mund weit auf und schreit seine Freude heraus. Dann macht er aus dem Lauf heraus eine Rolle, legt sich auf die rote Tartanbahn, reckt die geballten Fäuste hoch und springt flummigleich auf und ab. Gelöster und authentischer habe ich bis heute selten einen Sportler jubeln sehen. "Sensationell. Das war ein Hitchcock. Was hat uns der Mann Nerven gekostet", kommentiert Moderatoren-Legende Gerd Rubenbauer ins ARD-Mikrofon. Daran knüpft der junge Gerhard Delling im Interview mit Baumann an – wo wir bei eingangs erwähnter Situation wären. Denn auf die Entgegnung, dass Baumanns Rennen ob der Spannung "fast Körperverletzung für die Zuschauer" gewesen sei, antwortet dieser lapidar mit einem Lächeln: "Das kann I net berurteilen." Für ihn sei es "eigentlich dasselbe" gewesen wie bei anderen Rennen auch, ergänzt der frischgebackene Olympiasieger noch. So kann man die wohl denkwürdigsten 13 Minuten und knapp 13 Sekunden der deutschen 5.000-Meter-Geschichte natürlich auch beschreiben. Ich habe diese Einschätzung erst viel später gehört, möchte allerdings stark bezweifeln, dass das außer dem bodenständigen Baumann noch viele andere Anwesende an diesem lauen Sommerabend im August 1992 so wahrgenommen haben. Übrigens: Die finalen 100 Meter absolvierte Baumann in beeindruckenden 11,7 Sekunden.