Lage im Überblick: Raketenangriff auf Golanhöhen beschwört Kriegsgefahr herauf
Ein Geschoss iranischer Bauart reißt mindestens zwölf Kinder in den Tod. Israel ist entsetzt - und will die Hisbollah dafür teuer bezahlen lassen.
Ein tödlicher Raketenangriff, der der Hisbollah zugeschrieben wird, droht Israel und die libanesische Schiiten-Miliz an den Rand eines offenen Krieges zu bringen. UN-Vertreter riefen beide Parteien nachdrücklich zu "größtmöglicher Zurückhaltung" auf.
Mindestens 12 Menschen, allesamt Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 20 Jahren, kamen nach israelischen Militärangaben in der Ortschaft Madschd al-Schams auf den israelisch besetzten Golanhöhen ums Leben. Eine Rakete aus dem Arsenal der Hisbollah schlug dort am Samstagabend auf einem belebten Fußballplatz ein.
Israels Präsident Izchak Herzog zeigte sich entsetzt. "Die Terroristen der Hisbollah haben heute Kinder brutal angegriffen und ermordet, deren einziges Verbrechen darin bestand, Fußball zu spielen", schrieb er auf X. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drohte umgehend mit Vergeltung. "Die Hisbollah wird einen hohen Preis dafür bezahlen, einen Preis, den sie bislang noch nicht bezahlt hat", sagte Netanjahu nach Angaben seines Büros.
Der Regierungschef wollte am Sonntag nach seiner Rückkehr aus den USA das Sicherheitskabinett einberufen, hieß es weiter. Netanjahu hatte in den USA eine Rede vor dem Kongress gehalten und US-Präsident Joe Biden, Vizepräsidentin Kamala Harris und Ex-Präsident und Präsidentschaftskandidat Donald Trump getroffen. Seine Abreise aus Washington zog er um mehrere Stunden vor.
In einer Erklärung der Hisbollah hieß es, man habe mit dem Vorfall nichts zu tun. Man weise die Vorwürfe, Madschd al-Schams angegriffen zu haben, kategorisch zurück. Armeesprecher Daniel Hagari bezeichnete dies als eine "Lüge". Bei dem Geschoss habe es sich um eine iranische Rakete vom Typ Farak-1 gehandelt, die nur die Hisbollah verwende. Das hätten forensische Untersuchungen ergeben. Die Schiiten-Miliz wird vom Iran unterstützt und teilt dessen israelfeindliche Haltung. "Die Hisbollah steckt hinter dieser Katastrophe und muss die Konsequenzen tragen", sagte Hagari.
Expertin hält Fehlschuss für möglich
Die israelische Militärexpertin Sarit Zehavi verwies darauf, dass die Schiiten-Miliz zuvor Angriffe auf eine israelische Militärbasis auf dem Berg Hermon für sich reklamiert habe. "Es ist sehr leicht, die Basis auf dem Berg Hermon mit ungenauen Raketen, wie etwa der Farak, zu verfehlen", meinte sie. Madschd al-Schams liege unmittelbar darunter.
Die Schiiten-Miliz richtet sich indes nach eigenen Angaben auf einen möglicherweise schweren Angriff Israels ein. "Wir sind seit Monaten in Bereitschaft und halten Ausschau nach jeglichem Angriff des Feindes", erfuhr die Deutsche Presse-Agentur aus Kreisen der Hisbollah. "Dies ist nichts Neues, wir sind in ständiger Bereitschaft." Jetzt erwarte man einen möglicherweise "harten Angriff", hieß es den Kreisen zufolge.
In der US-Regierung nähre der Raketenangriff Befürchtungen, dass ein offener Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ausbrechen könnte, schrieb der gut vernetzte israelische Journalist Barak Ravid im US-Portal "Axios". "Was heute geschehen ist, könnte der Auslöser werden von dem, was wir seit zehn Monaten befürchten und zu verhindern versuchen", zitierte Ravid einen US-Regierungsbeamten. Die USA sind Israels wichtigster Verbündeter. Amerikanische und französische Diplomaten bemühen sich seit Monaten um eine Entspannung des Konflikts zwischen Israel und der Schiiten-Miliz.
"Wir fordern die Parteien nachdrücklich auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben und die anhaltenden heftigen Feuergefechte zu beenden", hieß es in einer gemeinsamen Mitteilung des Chefs der UN-Friedenstruppe im Libanon, Aroldo Lázaro, und der Sonderkoordinatorin für das Land, Jeanine Hennis-Plasschaert. Die Kämpfe "könnten einen größeren Flächenbrand entfachen, der die gesamte Region in eine unvorstellbare Katastrophe stürzen würde", warnten die beiden UN-Vertreter.
USA stehen "eisern" und "unerschütterlich" zu Israel
Ein Sprecher des Weißen Hauses verurteilte den Raketenangriff gegenüber Ravid als "schrecklich". "Unsere Unterstützung für Israels Sicherheit angesichts aller vom Iran unterstützten Terrorgruppen, darunter die libanesische Hisbollah, ist eisern und unerschütterlich", zitierte Ravid den Sprecher auf X. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zeigte sich über den Angriff schockiert. "Wir rufen alle Seiten zu äußerster Zurückhaltung und zur Vermeidung jeglicher weiterer Eskalation auf", teilte er auf X mit. Der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, sprach auf X von einem "schmerzhaften Abend" und forderte: "Diese mörderischen Angriffe müssen aufhören."
Der Raketenangriff traf einen Ort, in dem vor allem arabischsprachige Drusen leben. Die Religionsgemeinschaft ist im 11. Jahrhundert aus dem schiitischen Islam hervorgegangen und siedelt heute vor allem in Syrien, dem Libanon, Israel und Jordanien. In den jeweiligen Ländern legen ihre Angehörigen Wert auf inneren Zusammenhalt und Loyalität zum jeweiligen Staat. In Israel dienen viele Drusen freiwillig in der Armee.
Seit Beginn des Gaza-Kriegs im vergangenen Oktober liefern sich die Hisbollah und Israels Armee nahezu täglich Gefechte. Dabei kamen auf libanesischer Seite mindestens 100 Zivilisten ums Leben, zudem wurden rund 360 Hisbollah-Kämpfer getötet. Auch auf israelischer Seite gab es Tote. Auf beiden Seiten der Grenze wurden Zehntausende durch die Kämpfe vertrieben.
Der Raketenangriff folgte auf einen israelischen Angriff im Dorf Kfar Kila nahe der libanesisch-israelischen Grenze, bei dem nach Angaben der Hisbollah vier ihrer Mitglieder getötet wurden. Die vom Iran unterstützte Miliz handelt nach eigenen Aussagen aus Solidarität mit der Hamas, die auch im Libanon aktiv ist.
Schweigemarsch statt Parolen
Die Tragödie in Madschd al-Schams überschattete die wöchentlichen Demonstrationen, die von der Regierung Netanjahu eine Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln in der Gewalt der Hamas verlangen. In Jerusalem demonstrierten am Samstagabend wieder rund 1.000 Menschen. Diesmal verzichteten sie auf das Rufen von Parolen und marschierten schweigend zur Residenz Netanjahus, berichtete die "Times of Israel".
Die indirekten Gespräche über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und eine Geiselfreilassung sollen am Sonntag in Rom weitergehen. Die Hoffnungen auf Fortschritte bei den Gesprächen, bei denen die USA, Katar und Ägypten vermitteln, halten sich in Grenzen. Zuletzt hatte Netanjahu zusätzliche Bedingungen für einen Deal formuliert, die für die Hamas inakzeptabel sein dürften.
Auslöser des Gaza-Kriegs war das beispiellose Massaker mit 1.200 Toten, das die Islamisten der Hamas zusammen mit anderen Gruppen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober des Vorjahres im Süden Israels begangen hatten. Bei einem israelischen Luftangriff auf ein Schulgebäude in Deir al-Balah wurden am Samstag nach palästinensischen Angaben mindestens 30 Menschen getötet. Das israelische Militär erklärte, dort eine Kommandozentrale der Hamas angegriffen zu haben.