Margot Friedländer: Die 102-jährige Shoah-Überlebende lehrt uns, die richtige Sprache zu finden
Margot Friedländer ist der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entkommen, mit 102 ziert sie nun das Cover der deutschen "Vogue". Sie nutzt die ungewöhnlichsten Plattformen, um ihre Gedanken auszusprechen. Und schafft dabei etwas, das wenigen gelingt: wirklich gehört zu werden.
Als ich den Titel der aktuellen Sonderausgabe der deutschen "Vogue" mit der 102-jährigen Shoa-Überlebenden Margot Friedländer zum ersten Mal sah, war ich erst überrascht, dann gerührt, empfand Respekt für die Idee der Kolleginnen und Kollegen des Modemagazins, und dann: das Gefühl von Verbundenheit.
Die 1921 in Berlin geborene Margot Friedländer ist in den vergangenen Jahren zu einer der wichtigsten Zeitzeuginnen geworden, die uns noch zur Verfügung stehen. Sie ist dabei keine große Mahnerin, sondern wie eine weise alte Freundin, die uns gut zuredet. Ihre Reden zeichnet eine Besonderheit aus: Während sie von der Vergangenheit erzählt, weisen ihre Worte in die Zukunft.
Margot Friedländer: Mit großem Mut in ein "viertes Leben" aufgebrochen
Nach dem Tod ihres Ehemannes, den sie im Konzentrationslager Theresienstadt kennengelernt hatte und mit dem sie der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten entkommen war, suchte sie nach Aufgaben. 1997 belegte Friedländer einen Kurs für biografisches Schreiben am jüdischen Kulturinstitut in New York. Diese Entscheidung ist heute unser aller Glück.
Denn Margot Friedländer, die in ihrer neuen amerikanischen Heimat als Änderungsschneiderin und Reiseagentin gearbeitet hatte, lernte dadurch, das Unaussprechliche, das sie erleben und überleben musste, in Worte zu fassen. Sie begann Vorträge zu halten, drehte mit einem Berliner Regisseur einen Dokumentarfilm, 2008 erschien ihre Autobiografie "Versuche, Dein Leben zu machen" – der Beginn ihres "vierten Lebens", wie sie sagt.
Margot Friedländers Rückkehr nach Deutschland war ein Vertrauensbeweis
Es gilt als großer Vertrauensbeweis ihrerseits, dass sie 2010 im Alter von 88 Jahren den Schritt zurück nach Deutschland wagte und auch die deutsche Staatsbürgerschaft annahm. Die Freie Universität Berlin verlieh ihr die Ehrendoktorwürde als "Bürgerwissenschaftlerin". Ausgerechnet jene Hochschule, die heute mit Antisemitismus zu kämpfen hat, formulierte mit diesem Kunstbegriff, wofür diese große Frau heute steht.
Wird es ihr gerecht, nun auf dem Titel eines Hochglanz-Magazin zu posieren? Ich finde ja, sie hat alle Ehrungen erhalten, die diese Republik im Repertoire hat, im Berliner Roten Rathaus steht sogar eine Büste von ihr. Sie trägt die große Aufgabe, die sie freiwillig erfüllt, nicht nur mit Würde und Engagement, sondern auch mit unvergleichlicher Eleganz.
Es lohnt sich, die großen Reden der Margot Friedländer auf Youtube anzuschauen. Etwa ihre Ansprache vor dem Europäischen Parlament im Jahr ihres 100. Geburtstags, in der sie die erschütternde Geschichte von der Verschleppung ihres 17-jährigen Bruders Ralf durch die Gestapo in klaren, ruhigen Worten berichtet. Als die 21-jährige Margot damals nach Hause kam, war nicht nur ihr Bruder, sondern auch die Mutter verschwunden. Diese hatte sich selbst der Gestapo gestellt, um bei ihrem Sohn zu sein. Das Letzte, das sie von ihr vernahm, war ein Zettel, auf dem stand: "Ich gehe mit Ralf, wohin das immer sein mag, Margot soll versuchen, ihr Leben zu machen." Mit eindrücklicher Bedächtigkeit wies sie während ihres Vortrags auf die Konferenz von Evian im Jahre 1938 hin, in der sich alle Staaten außer der Dominikanischen Republik geweigert hatten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. "Vielleicht hätte es ohne das in Evian Gesagte die Konferenz vom Wannsee nie gegeben", formulierte sie damals.
"Gibt kein jüdisches, kein christliches, kein muslimisches Blut"
Sie habe eine Botschaft, sagt sie, die sie immer wieder zu Schülern und Schülerinnen weitertrage. Sie sei zurückgekommen, "um mit Euch zu sprechen, Euch die Hand zu reichen, Euch zu bitten, dass ihr die Zeitzeugen werdet, die wir nicht mehr lange sein können", sagt Friedländer. "Es ist für Euch: Seid Menschen! Menschen haben es getan, weil sie Menschen nicht als Menschen anerkannt haben." Man könne nicht alle lieben, aber Respekt solle man haben. "Es gibt kein jüdisches, kein christliches, kein muslimisches Blut, es gibt nur menschliches." Große Worte.
Manche Überlebende der Shoa haben in der Nachkriegs-Bundesrepublik die Rolle übernommen, dem Land, in dem man ihnen zuvor nach dem Leben und nach ihrer Menschenwürde getrachtet hatte, als moralische Institution zu dienen. Darunter bedeutende jüdische Bürger und Bürgerinnen wie Ignaz Bubis, Charlotte Knobloch und Esther Bejarano. Ebenso Hugo Höllenreiner oder Zilli Schmidt, die als Angehörige der Roma und Sinti verfolgt worden waren und sich als Zeitzeugen in den Dienst des Erinnerns und Mahnens stellten. Sie übernahmen im Kleinen wie im Großen bedeutende, gesellschaftliche Aufgaben, die von den gewählten Repräsentanten des Staates lange vernachlässigt worden waren.
Margot Friedländer füllt eine klaffende Lücke in der Öffentlichkeit
Die große, öffentliche Zuneigung für Margot Friedlänger ist zuallererst ihrer wundervollen Persönlichkeit geschuldet. In zweiter Linie aber vielleicht auch dem Umstand, dass sie eine klaffende Lücke füllt. Frank-Walter Steinmeier ist sicher ein achtenswerter Mann, aber seine Reden klingen wie aus einem Baukasten voller wohlmeinender Phrasen. Die Wahl seines Vorgängers Joachim Gauck gegen den ursprünglichen Willen der Kanzlerin war bereits dem Umstand geschuldet, dass in der Bevölkerung der Wunsch nach einem Staatsoberhaupt zu verspüren war, der den Menschen aus der Seele sprechen konnte. Gauck hat sich bemüht, aber seine Reden werden wohl eher als die eines engagierten Pastors in Erinnerung bleiben – und nicht als die eines großen Präsidenten.
Auch wenn nicht alles immer gut und richtig war, was sie im Laufe ihres öffentlichen Wirkens von sich gaben, so stachen doch einige Persönlichkeiten in diesem Land heraus: die Bundeskanzler Willy Brandt (während seiner Amtszeit) und Helmut Schmidt (deutlich danach), Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der politische Kabarettist Dieter Hildebrandt, die erste Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, und auch der sich zum Ende seines Lebens selbst diskreditierende Literaturnobelpreisträger Günter Grass. Für weite Strecken ihres öffentlichen Wirkens gilt dies auch für Alice Schwarzer.
Im Lärm der Kakophonie in den sozialen Medien
Vielleicht hängt es damit zusammen, was der nun 95-jährige Philosoph Jürgen Habermas meint, wenn er vom "Verlust der sozialintegrativen Kraft der demokratischen Öffentlichkeit" spricht. Die lautstarke Kakophonie in den sozialen Medien, in der jeder minütlich irgendeine Meinung ins Netz posaunt, verschluckt und übertönt manchen klugen Gedanken, der vielleicht zwischendurch geäußert wird. Etwa die bedeutende Rede der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller über die perfide Strategie der Hamas.
Die 102-jährige Friedländer beweist, dass man die richtigen Worte finden kann. In Gedenkstunden des Bundestags, vor Schulklassen, auf dem Deutschen Filmpreis, in Talkshows und ja auch auf einem "Vogue"-Titel. Würde es ihr hohes Alter nicht unmöglich machen, würde man am liebsten lautstark rufen: Margot for President! So aber bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an ihrem Wirken ein Beispiel zu nehmen. Um wenigstens zu versuchen, es ihr gleichzutun.