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Май
2024

Prozess in Halle: Höcke und sein Urteil: "Die Nazis haben auch Guten Tag gesagt"

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Stern 

Weil Björn Höcke eine SA-Parole auf einer Kundgebung rief, muss der Thüringer AfD-Vorsitzende eine Geldstrafe zahlen. Vor der Entscheidung in Halle stilisierte er sich zum politischen Verfolgten einer kafkaesken Justiz. 

Es ist 19.01 Uhr im Justizzentrum Halle, als die 5. Große Strafkammer des Landgerichts ihre Entscheidung über Björn Uwe Höcke aus Bornhagen in Thüringen verkündet. Er soll 100 Tagessätze je 130 Euro zahlen und die Kosten des Verfahrens tragen. "Das Gericht muss sich alles anhören", sagt Jan Stengel, der Vorsitzende Richter. "Aber es muss nicht alles glauben."

Höcke wirkt sichtlich angefasst. Er schaut mit starrem Blick auf den Richter, sein Gesicht ist errötet. Nach einem halben Dutzend Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung und anderen Delikte ist er, der Vorsitzende der Thüringer AfD und bekannteste Rechtsextremist Deutschlands, wegen des "Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen" verurteilt. In seinem Fall ist dieses Kennzeichen ein Halbsatz aus drei Worten. "Alles für Deutschland" hatte Höcke auf einer Kundgebung im Mai 2021 in Merseburg gerufen.

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"Alles für Deutschland: Genau diese drei Worte waren auf dem Dienstdolch jedes SA-Manns eingraviert. Und genau diese drei Worten standen 1934 in riesigen Lettern in Nürnberger Luitpoldhalle, in der Adolf Hitler seinen NSDAP-Reichsparteitag zelebrierte. Die Bilder davon wurden im Gerichtssaal gezeigt. 

Das Urteil ist nicht nur der Schlusspunkt eines ungewöhnlichen Prozesses, sondern auch eines ungewöhnlichen vierten Verhandlungstages – was vor allem an dem in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Angeklagten liegt. 

Höckes Rede in Gera

Der Verhandlungstag beginnt am Dienstagmorgen pünktlich um 9 Uhr. Draußen, vor dem Justizzentrum, steht wie zum Prozessbeginn vor knapp einem Monat eine größere Menschengruppe, um gegen den Angeklagten und die zugehörige Partei zu demonstrieren. Drinnen, im Gerichtssaal, sind in Erwartung von Plädoyers und Urteil die Sitzreihen nahezu vollständig gefüllt. Höcke trägt wie immer einen dunkelblauen Anzug, diesmal wieder mit himmelblauem Schlips. Er wirkt, wie zumeist, recht angespannt. Dass er sich seit Jahren als Verfolgter einer übergriffigen Justiz betrachtet, hat er oft genug bekundet, in seinen Reden, in den sozialen Netzwerken und den seltenen Interviews.    

Nach der Eröffnung der Verhandlung verkündet Richter Stengel die Entscheidung über die zuletzt gestellten Beweisanträge. Den wohl wichtigsten Antrag der Staatsanwaltschaft hat die Kammer zugelassen: Die Aufzeichnung einer Rede Höckes, die er auf einer AfD-Veranstaltung im Dezember 2023 hielt, soll abgespielt werden – und dies, obwohl sie Teil einer separaten Anklage der Staatsanwaltschaft ist.  

In dem Video, das an die Wand projiziert wird, ist der Thüringer AfD-Chef zu sehen, wie er die Zuwanderung mit einem Rohrbruch vergleicht. Das heraussprudelnde Wasser, das alles überflutet, soll in diesem Bild ganz offenkundig ein Strom an unerwünschten Migranten sein. Nötig sei hier ein "blauer Klempner", sagt Höcke, also die AfD, denn nur sie könne das deutsche Haus "ganz schnell trocken" legen. Ansonsten sehe es bald überall so aus wie in Suhl, wo das Thüringer Erstaufnahmeheim stehe und Frauen belästigt oder gar begrapscht würden. 

Höcke vorbestraft

Höcke redet über das "Recht des Blutes" und darüber, dass Deutschland seiner Identität beraubt werde. "Ich würde natürlich niemals von großer Umvolkung reden, weil mich dann der Verfassungsschutz beobachtet", sagt er und lacht. Aber: "Wir sind unter Beobachtung von gewissen Mächten, weil bei uns viel zu holen ist." Während der Höcke in Gera all dies sagt, läuft das Gesicht des Höckes in Halle rot an. Er weiß, was jetzt im Video kommt: Er spricht den damals noch anstehenden Prozess an und wiederholt das, was er auf im Mai 2021 am Ende einer Kundgebung in Halle rief: "Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für …" 

Das letzte Wort – "Deutschland" – lässt er das Publikum rufen. 

Der Zeuge, der mit Kubitschek arbeitete

Damit ist für die Staatsanwaltschaft alles Notwendige gezeigt.  Aber jetzt ist die Verteidigung dran. Sie beantragt, wie sie es formuliert, einen der kundigsten Experten zur politischen Symbolik überhaupt anzuhören. Und das Gericht lässt ihn tatsächlich als Zeugen zu. Damit kommt es zum Auftritt von Karlheinz Weißmann, einem pensionierten Geschichtslehrer aus Göttingen, der einst mit Götz Kubitschek das Institut für Staatspolitik gründete. 

Kubitschek? Genau, das ist der wohl wichtigste Ideengeber von Höcke. Bis zu seiner Auflösung vor wenigen Tagen galt das Institut als geistiger Hort der sogenannten Neuen Rechten – und der AfD. Höcke war hier oft zu Gast, die Bundesvorsitzende Ailce Weidel ebenso und zuletzt auch der EU-Spitzenkandidat Maximilian Krah. Zwar hat sich Weißmann schon vor Jahren aus dem Institut zurückgezogen. Aber er schreibt weiter für die "Junge Freiheit" und arbeitet seit Jahren für eine AfD-nahe Stiftung. Nun also soll er Höcke, den er nach eigenen Angaben nur einmal als Lehrerkollegen getroffen haben will, vom Verdacht der SA-Parole befreien. 

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Weißmann tut das, wozu er von der Verteidigung geladen ist. Er doziert darüber, dass der Spruch "Alles für Deutschland" von Ludwig I., dem König von Bayern erfunden worden sei, dass er in der Weimarer Republik von Nationalisten, aber auch von Sozialdemokraten benutzt wurde und nach 1945 sogar kurz von der SED. Nur die SA habe eben den Satz, mal abgesehen von dem Dolch, kaum verwendet. Doch der Gestus des Wissenden relativiert sich, als Vorsitzende Richter den Zeugen die NS-Zeitschrift "Der SA-Führer" vorhält, in der "Alles für Deutschland" als das "hohe und heilige Gesetz der SA" bezeichnet wird." Kenne er das Zitat? Nein, antwortet Weißmann. Er habe noch nie etwas davon gehört, fragt Stengel nach. "Also in dem Kontext, nein."

Die Strategie der Verteidigung

So oder so ist die Strategie der Verteidigung hinreichend klar: Erstens habe es sich bei "Alles für Deutschland" um keine SA-Parole gehandelt, sondern nur die bei den Nazis übliche Vereinnahmung eines Allerweltspruchs. Der objektive Tatbestand sei also nicht gegeben. Und selbst wenn das Gericht dies anders sehen sollte, so habe Höcke keinesfalls aus Vorsatz gehandelt, weil er ja nichts darüber habe wissen können. 

Staatsanwalt Benedikt Bernzen argumentiert in seinem Abschlussplädoyer komplett anders. Wie nicht nur die Rede im Dezember 2023 in Gera zeige, habe sich Höcke "mehr als intensiv mit der Sprache des Nationalsozialismus befasst und sich zu eigen gemacht", sagt er. Er nutze bewusst historische belastete Begriffe wie "Umvolkung" oder "Tat-Elite", um die Grenzen des Sagbaren immer weiter zu verschieben. "Der augenscheinlich fundierte Sprachschatz des Angeklagten weist auf ein Täterwissen hin", sagt Bernzen. Deshalb sei auch eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten, die für zwei Jahre auf zu Bewährung ausgesetzt werden sollte, das angemessene Urteil. 10.000 Euro sollten an eine NS-Gedenkstätte, eine Demokratieförderungsprojekt oder ein Aussteigerprojekt für Rechtsradikale gehen. 

Dann sind die drei Wahlverteidiger dran, die, so viel Zeit muss sein, drei Plädoyers halten, einer nach dem anderen. Es handele sich um "Kriminalisierung von Sprache" und eine "mediale Hetzjagd", sagt Rechtsanwalt Ralf Hornemann. Sein Kollege Philip Müller vermisst das Motiv, in einer "spontanen Rede" auf einer "völlig unbedeutenden Veranstaltung". Rechtsanwalt Ulrich Vosgerau, der vor einigen Monaten an dem ominösen Treffen von Politikern und Rechtsextremisten in Potsdam teilnahm, wird besonders grundsätzlich. Er zweifelt den Straftatbestand insgesamt an. Die Rechtsnorm, sagt er, sei verfassungsrechtlich "höchst problematisch". Und falls es zu einer Verurteilung seines Mandanten käme, dann ginge "der Schuss nach hinten los". Denn: "Dann würde ich den natürlich hochtreiben zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte." 

Die Opferrede des Björn Höcke

Schließlich richtet sich der Angeklagte auf und redet. Und redet. Und redet. Alles, was sich in Björn Höcke angestaut hat, muss heraus. Der Frust über den Staatsanwalt ("Sie haben in der Diktion eines politischen Aktivisten gesprochen"), über das "Zerrbild der etablierten Medien" und über diese Zumutung, vor Gericht zu stehen. "Bin ich kein Mensch?" ruft er. "Von den Medien werde ich so behandelt, als sei ich kein Mensch." Seit elf Jahren gehe das nun schon so. Acht Mal sei wegen Meinungsdelikten seine parlamentarische Immunität aufgehoben worden, zwei weitere Prozesse stünden noch aus. "Ich habe wirklich das Gefühl, ein politisch Verfolgter zu sein."

Wer Höcke kennt, kennt auch seine ständige, oft larmoyant klingende Klage darüber, dass er verteufelt werde. Er wiederholt diese Klage auch in Halle: "Diese Art und Weise, hier Maß genommen zu werden, die das Gegenteil voraussetzt, von dem was ich bin, das geht mich an, das geht mich tief an."

Er, Höcke: Er ist hier das Opfer. Mehr noch: Er ist Josef K. aus "Der Prozess". Der Politiker, der mit seiner Dienstlimousine vorgefahren kam, vergleicht sich mit dem tragischen Protagonisten aus Franz Kafkas berühmten Roman, "der eines Morgens abgeholt wird, völlig unschuldig, und dann verurteilt und hingerichtet wird". Irgendwann unterbricht der Vorsitzende Richter den Angeklagten. "Herr Höcke, zur Sache, keine Wahlrede!", ermahnt ihn Stengel. Doch Höcke redet noch eine Weile weiter.

"Ich bin völlig unschuldig!"    

Die Aussage "Alles für Deutschland", sagt er, sei spontan gefallen, und ohne jedes Wissen darüber, dass sie etwas mit der SA zu tun habe. "Die Nazis haben auch Guten Tag gesagt. Wollen wir die deutsche Sprache verbieten?" Höckes Stimme gibt jetzt seiner Stimme fast einen verzweifelten Ton. "Ich habe mit Diktatur nichts am Hut", sagt er. "Glauben Sie mir, ich wusste es nicht, ich bin völlig unschuldig, ich habe ein völlig reines Gewissen und bitte um Freispruch!"

Sein Wunsch wird nicht erfüllt. Das Gericht, sagt der Vorsitzende Richter, sei zu der Überzeugung gelangt, dass er, Höcke, gewusst habe, was er an jenem Maitag vor drei Jahren in Merseburg sagte. Womöglich sei dies spontan geschehen, nach dem Motto "Mal gucken, wie weit ich gegen kann". Aber dies, sagt Stengel, ändere nichts an der Strafbarkeit: "Die Meinungsfreiheit wird da als Deckmantel arg strapaziert."

Schließlich wendet sich der Richter noch einmal an die Verteidigung. Selbstverständlich, sagt er, könne jetzt binnen einer Woche Revision eingelegt werden, das sei das gute Recht des Angeklagten. "Aber die Drohung mit Rechtsmitteln kommt bei uns nicht an", fährt er fort. "Das ist uns völlig schnuppe."