Stadtderby: Wildwest im Volkspark: Glatzels letzter Streich rettet die Ehre des HSV
Es raucht, es kracht, es pfeift, und gerauft wird auch: Das Hamburger Stadtderby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli glich einem Actionfilm. Mit spätem Höhepunkt.
Corny Littmann führt ein buntes Leben: Er wurde schon 1979 Mitglied der Grünen, kämpft seit jeher für die Rechte von Homosexuellen, war rund sieben Jahre lang Fußballfunktionär und führte in dieser Zeit den FC St. Pauli in die erste Liga, aus dieser der sich, nachdem er den FC Bayern geschlagen hatte, bald wieder verabschiedete. Im Hauptberuf leitet Littmann aber ein Theater auf St. Pauli, das sich auf Bühnenkunst aller Art spezialisiert hat. Es handelt sich um eine herrliche Frivolität, wenn dieser Kleinkunst-Manager im Vorfeld des Stadtderbys dem Hamburger Sportverein, der vor vielen Jahren einmal als der beste deutsche Verein galt, hinterherruft, dieser werde miserabel geführt. Dieser HSV, in dessen Aufsichtsrat Abgesandte der feinen Gesellschaft der Hansestadt sitzen, in dem die Verantwortlichen gern im feinblauen Zwirn auftreten, dieser HSV, der den Unternehmer Klaus-Michael Kühne hinter sich weiß, einen Megamulti-Supermilliardär, dieser HSV, dessen Bedeutung für die Stadt in der Selbstwahrnehmung nur noch vom Hafen übertroffen wird – dieser Klub soll also schlecht gemanagt sein?
Corny Littmann, dessen Verein eine fabelhafte Saison hinter sich hat, hat gut reden – und er hat recht. Seit sechs Jahren steckt der HSV in der zweiten Liga fest wie ein Weltraumreisender in einem Wurmloch: Er kommt da nicht mehr raus. Er hat das meiste Geld, er hat eine überwältigend große Fanschar, er hat Spieler, die auch in Erstliga-Vereinen zum Stammpersonal gehörten. Aber immer, wenn alle denken, sie wachten aus einem Albtraum auf, merken sie: Sie haben gar nicht geschlafen.
Der FC St. Pauli dagegen mag gar nicht mehr aufwachen aus seinem Traum: Nahezu unbedrängt hat sich der Klub über weite Strecken der Saison ganz oben in der Tabelle gehalten. Spielerisch stark und unterhaltsam (das war früher sehr oft anders), taktisch konsistent, angeleitet von einem jungen Trainer, der gehandelt wird als der Xabi Alonso der zweiten Liga: Fabian Hürzeler, Arztsohn aus München.
Stadtderby in Hamburg: Der HSV scheitert (vermutlich) am Aufstieg
Die Ausgangslage vor diesem Stadtderby: St. Pauli nur noch einen Schwimmzug von Liga eins entfernt. Der HSV dagegen irgendwie abgetrieben.
"Im Fußball geht es nicht um Leben und Tod", sagte der einstige Trainer des FC Liverpool, Bill Shankly. "Im Fußball geht es um ernsthafte Dinge." Und so würde es in diesem Match, drei Spieltage vor Saisonschluss, auch um die Ehre gehen, von welcher der St. Pauli eine Menge einheimsen kann und der HSV eine noch größere Menge verlieren. Schon vor dem Anpfiff kam es zur ersten Rudelbildung, als beim Aufwärmen ein Pauli-Ball in der HSV-Hälfte landete. Die anschließende Rangelei ließ an Schulhofschubsereien denken: "Ey, du Ehrenloser!" – "Wie hast du mich genannt, du Sack!?"
Die Hamburger Nordkurve baute eine "Festung Volkspark" auf, so die Worte auf dem Riesenbanner, die Gästekurve antwortete mit rotem Feuer, das zu einer prächtigen Wolke wurde. Kaum hatte das Spiel begonnen, war es schon unterbrochen: Auf dem Feld war es so neblig wie an einem Novembermorgen an den Landungsbrücken. Und aus dem Rauch taucht der HSV auf mit den ersten Chancen. Auf die bald, so läuft das hier, die ersten Tölpeleien folgen in Form von unnötigen Ballverlusten von Jean-Luc Dompé, den der Klub für seine Tempodribblings eingekauft hatte – und der kurz nach Dienstantritt 2022 als Tempomacher bei einem illegalen Autorennen auffällig wurde.
In der Folge hindert Pauli den HSV recht geschickt am Fußballspielen. Bis zu einer Doppelchance durch Glatzel und Königsdorfer (20.), nach der die Lärmkurve nach oben knallt. Ein gutes Derby ist immer auch ein Actionfilm.
Der dritte HSV-Treffer gegen St. Pauli zählt dann auch
Die erste Explosionsszene aber wird vom Schiedsrichter durch einen Pfiff jäh beendet: Glatzel soll auf seinem Solo zum 1:0 (24.) einen Verteidiger unter die Sohle getreten haben. Das Tor zählt nicht, im Rund erklingt ein Pfeifen wie nach einem Hörsturz. Pauli antwortet mit einer eigenen Riesenchance durch Kemlein (27.), der Ball bleibt aber am Pfosten kleben. War eh Abseits. Danach folgt eine längere Passage, die eher Dialogszenen gleicht: Es geht hin und her, inklusive Außenpfostenkopfball durch Königsdörffer (36.).Die Dialogszenen werden abgelöst durch Grätschen, Blocken, Schubsen. Wir sind ja nicht zum Geplänkel hier. Torschüsse aber kommen bis zur Pause nur noch selten vor.
Und Düsseldorf, vier Punkte vor dem HSV auf Platz drei, führt im Parallelspiel gegen Nürnberg 2:0. Was soll da noch kommen? Denkt sich der Himmel und verdüstert sich.
Das Tor, das schließlich fällt zum erneut vermeintlichen 1:0 (62.), ist Ergebnis einer Rumpelei und Rempelei. Der Schiedsrichter gibt es, zieht es bald aber zurück. Wieder nix. Große Teile des Publikums sind nicht erfreut. Es kommt ihnen vor, als wollte die Welt, besonders die braun-weiße, dem HSV eine lange Nase zeigen.
Während Düsseldorf zum 3:1 trifft, erheben sich ein paar Spieler zum Widerstand, Königsdörffer, der sein bestes Spiel seit langem macht, versucht es scharf aus der Distanz, Pherai wagt einen Schlitzohr-Freistoß. Schön, aber folgenlos.
Nun denn, da muss Glatzel halt noch mal ran: Er köpft das diesmal unantastbare 1:0 in der 85. Minute, als einige im Stadion schon in der Dämmerphase waren, voran der Pauli-Torhüter Vasilj, der an einem Eckstoß von Muheim vorbeihüpft. Das Spiel, in dem so viele Stöpsel gezogen wurden, bekommt endlich seine Pointe. Und die zweite Liga etwas mehr Drama: Nutzt der Sieg dem HSV erst mal wenig, verliert St. Pauli an Boden gegenüber den Düsseldorfern, über dessen Management Corny Littmann sich bislang noch nicht geäußert hat. Das letzte Wort im Spiel bekommt der Schiedsrichter, doch Pherai erhört ihn nicht und verschießt einen Foulelfmeter. Anti-Klimax, schlecht für einen Actionfilm. Trotzdem bricht mit dem Schlusspfiff Getöse aus. "Die Stadt gehört uns", verkündet die Nordkurve per eilig ausgerolltem Banner. Die Derbyehre ist gerettet. Mal sehen, wann und in welcher Liga sie das nächste Mal auf dem Spiel steht.